„Religiöse Dynamiken prägen unsere Gesellschaft weiterhin erheblich“

Religionsforscher: Fokussierung auf Kirchenaustrittszahlen und sinkende Gottesdienstteilnahme übersieht Wandel von Kirchen und Religiosität ins Politische – Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und DFG-Forschungsgruppe „Katholischsein in der BRD“

Plakat zur Tagung
© exc

Pressemitteilung vom 01. März 2022

Mit der Dynamik des Religiösen in Prozessen des Politischen befasst sich in der kommenden Woche eine interdisziplinäre Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der WWU Münster und der DFG-Forschungsgruppe „Katholischsein in der BRD“. „Das Christentum erleidet derzeit einen enormen Bedeutungsverlust in Westeuropa, nicht aber in Amerika und Osteuropa“, sagt der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Andreas Holzem von der Forschungsgruppe. „Die Kirchen werden als Hort des Traditionalismus gesehen, verstärkt durch die Autoritätskrise, die die schleppende Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs ausgelöst hat.“ Trotz aktueller Austrittszahlen solle man aber nicht die religiösen Dynamiken übersehen, die Politik und Gesellschaft bis heute prägten. „Kirchenmitglieder wenden sich seit den 1960ern zunehmend von den Autoritäten der verfassten Kirche ab, verstehen ihr Christentum aber zugleich immer politischer.“

Es gebe viele Beispiele, wie der Rückgang klassischer Frömmigkeit neue religiöse Dynamiken auslöse, so Holzem weiter. „Die Gottesdienstteilnahme sinkt seit Jahrzehnten, viele Kirchenmitglieder sehen sich aber der Gesellschaft verpflichtet und engagieren sich etwa für Klimaschutz oder soziale Gerechtigkeit.“ Aus solchen Phänomenen ergäben sich viele Forschungsfragen, etwa danach, wie neue Rituale entstehen, wenn religiöses Handeln immer weniger als Kultvollzug und mehr als gesellschaftliches Handeln verstanden wird.

Die Tagung „Dynamik des Religiösen in Prozessen des Politischen“ vom 8. bis 10. März soll den interdisziplinären Austausch in der Religionsforschung ausbauen. Veranstalter sind die Theologen Prof. Dr. Andreas Holzem von der Forschungsgruppe und Prof. Dr. Michael Seewald vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“.  Der Exzellenzcluster erforscht in seiner aktuellen Förderphase besonders „Dynamiken von Tradition und Innovation“. Epochenübergreifend analysieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Faktoren, die Religion zum Motor gesellschaftlichen Wandels machen. Die DFG-Forschungsgruppe „Katholischsein in der Bundesrepublik Deutschland 1965–1989/90“ analysiert die Erneuerung religiöser Glaubensformation und -praxis im Kontext deutscher Gesellschaftsgeschichte ab Mitte der 1960er Jahre bis 1989. Diese Jahre kennzeichnet eine enorme religionskulturelle Dynamik.

Dynamiken von Tradition und Innovation

Prof. Dr. Michael Seewald und Prof. Dr. Andreas Holzem
Prof. Dr. Michael Seewald und Prof. Dr. Andreas Holzem
© Privat/Annette Cardenale

Das Tagungs-Panel „Säkularisierung oder Transformation?“ fragt, wie sich religiöser Wandel in modernen Gesellschaften in Modellen abbilden lässt und diskutiert die Konstrukte „Säkularisierung“ und „Transformation“. Im Mittelpunkt des Panels „Theologie als soziale Praxis“ stehen die Fragen, wo das Nachdenken über Religion und religiöse Praktiken in den sozialen Alltag eingreift und welche Dynamiken und Spannungen dadurch ausgelöst werden. Die Vernetzung von religiösen Akteuren mit anderen politischen und sozialen Gruppen steht im Mittelpunkt des Panels „Religion und Politik“, das auch nach Unterschieden zwischen Konfessionen und Religionen in der Politik fragt. Unter dem Titel „Emotionen – Gender – Recht – Generation“ bearbeitet die Tagung zudem methodische Fragen der Religionsforschung. (sca/vvm)