Katholiken damals, Muslime heute: Vom Vorwurf der Abschottung

52. Deutscher Historikertag in Münster stellt Konzept der religiösen „Parallelgesellschaften“ auf den Prüfstand – Streitgespräch über „Katholiken damals – Muslime heute“ – Zeithistoriker: Beide Gruppen sahen sich ähnlichen Fremdheitsgefühlen ausgesetzt – Podium von Exzellenzcluster und CRM mit Wilfried Loth, Schirin Amir-Moazami, Marc Breuer, Levent Tezcan

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Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 11. September 2018

Katholiken damals, Muslime heute: Auf dem 52. Deutschen Historikertag Ende September in Münster stellen Historiker das Konzept der religiösen „Parallelgesellschaft“ auf den Prüfstand. „Der Vorwurf der Abschottung in eine ‚Parallelgesellschaft‘, den Musliminnen und Muslime seit Jahrzehnten in Deutschland hören, traf im 19. Jahrhundert eine andere religiöse Gruppe – die der Katholiken, die die protestantische Mehrheit als ähnlich fremd empfand“, erläutern die Historiker Prof. Dr. Thomas Großbölting und Dr. Daniel Gerster vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ und dem Centrum für Religion und Moderne (CRM) der Universität Münster. „Damals wie heute dient ‚Parallelgesellschaft‘ eher als politischer Kampfbegriff denn als Analysekategorie: Die Geschichtsforschung konnte nachweisen, dass das katholische Milieu längst nicht so abgeschottet lebte, wie es die protestantische Mehrheit damals unterstellte.“ Umso wichtiger sei es, aus der historischen Forschung zu lernen und auch die heutige Verwendung des Konzepts unter die Lupe zu nehmen, so die Forscher, die beim Historikertag das Streitgespräch „Katholiken damals – Muslime heute: Religiöse ‚Parallelgesellschaften‘ im Vergleich“ am 27. September organisieren.

„Mit dem Begriff ‚Parallelgesellschaft‘ drückt die deutsche Mehrheitsgesellschaft seit Jahrzehnten die Fremdheit aus, die sie gegenüber Migranten empfindet, und auch ihre Vorstellungen von der ‚richtigen‘ Gesellschaft“, so Zeithistoriker Thomas Großbölting. „Unbekannte religiöse Rituale und ein enormes Bildungsdefizit, rückständig und antimodern, überdies noch einer fremden Macht verpflichtet: Was heute häufig Musliminnen und Muslimen vorgeworfen wird, hielt man im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert dem katholischen Bevölkerungsteil vor“, führen die Wissenschaftler aus. „In beiden Fällen laufen die Vorurteile darauf hinaus, dass die jeweilige religiöse Gemeinschaft eine nicht integrierbare, vielleicht sogar integrationsunwillige ‚Parallelgesellschaft‘ bildet.“ Die Kritik der Mehrheitsgesellschaft an Muslimen ähnele in ihrer Struktur damaligen Vorbehalten gegenüber Katholiken. Indes bestünden auch Unterschiede, die im historischen Vergleich der Milieus stets zu beachten seien: „Katholiken waren mit etwa 30 Prozent eine deutlich größere Minderheit als die etwa fünf Prozent Muslime heute in Deutschland“, so Daniel Gerster. „Muslime bringen zudem ihre Einwanderungsgeschichte mit und sprechen Deutsch häufig nicht als Muttersprache.“

Das interdisziplinäre Streitgespräch „Katholiken damals – Muslime heute. Religiöse ‚Parallelgesellschaften‘ im Vergleich“ auf dem 52. Deutschen Historikertag fragt am Donnerstag, 27. September, um 11.00 Uhr im Fürstenberghaus in Münster nach der Rolle der Religion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es diskutieren der Historiker Prof. Dr. Wilfried Loth von der Universität Duisburg-Essen, die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Schirin Amir-Moazami von der Freien Universität Berlin, der Religionssoziologe Prof. Dr. Marc Breuer von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn, und der Religionswissenschaftler PD Dr. Levent Tezcan von der Ruhr-Universität Bochum. Die Veranstaltung moderiert der Hamburger Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff. (sca/vvm)

„Gespaltene Gesellschaften“ – 52. Deutscher Historikertag in Münster

Mit dem Thema „Gespaltene Gesellschaften“ in allen Epochen und Kontinenten befasst sich der 52. Deutsche Historikertag vom 25. bis 28. September 2018 an der Universität Münster. Rund 3.500 Wissenschaftler aus dem In- und Ausland tauschen sich auf dem größten geisteswissenschaftlichen Kongress in Europa in mehr als 90 Sektionen über aktuelle Forschungsthemen aus. Als Gastredner werden erwartet Wolfgang Schäuble, Christopher Clark, Herfried Münkler, Ulrich Raulff, Aladin El-Mafaalani und Birgit Schäbler. Das Gastland Niederlande vertreten etwa die Parlamentsvorsitzende Khadija Arib und der Autor Geert Mak.
Die Sektionen befassen sich in vielen Fallbeispielen mit sozialen, ökonomischen, religiösen oder ethnischen Spaltungen, die nicht erst die Gegenwart, sondern auch frühere Epochen herausforderten. Erörtert werden etwa Flüchtlingsdebatten vom Altertum bis zur Gegenwart, die soziale, wirtschaftliche und rechtliche Ausgrenzung bestimmter Gruppen in verschiedenen Epochen, die Frage nach dem Westfälischen Frieden als Vorbild für Nahost, ökonomische Spaltungen in der Bundesrepublik etwa zwischen „Hartz-IV-Familien und Helikoptereltern“ oder die politische Instrumentalisierung von Geschichtsbildern in heute gespaltenen Gesellschaften wie Katalonien, Schottland und Kosovo.

Ausrichter des Historikertags sind der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD), der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) und die Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU). Der Kongress geht auf die „erste Versammlung deutscher Historiker“ 1893 in München zurück, wird alle zwei Jahre ausgetragen und widmet sich drängenden Fragen in Geschichtswissenschaft und Gesellschaft. (vhd/sca/vvm)
Hinweis: Interessierte und Medien können sich unter www.historikertag.de anmelden.