Forscher überprüfen ethische Zulässigkeit der Flüchtlingspolitik

Internationale Tagung bringt Sozialwissenschaftler und Philosophen zusammen, um unausgesprochene Normen der Migrationspolitik unter die Lupe zu nehmen – „Politische Missverständnisse und Lagerbildung vermeiden“ – Interdisziplinäre Veranstaltung des Exzellenzclusters und des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld

Tagungsplakat
Tagungsplakat
© wikimedia

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 5. September 2018

Forscher aus Philosophie und Sozialwissenschaften wollen künftig gemeinsam die ethische Zulässigkeit von Maßnahmen der europäischen Flüchtlingspolitik untersuchen. „Jenseits der Fälle, in denen Staaten klarerweise moralisch versagen, gibt es eine Vielzahl von grenzpolitischen Maßnahmen, die die akademische Ethik noch nicht überprüft hat“, sagt der Philosoph Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster im Vorfeld einer Tagung zur Migrationspolitik. „Solchen Fragen darf die Wissenschaft nicht länger ausweichen. Die empirische Migrationsforschung bringt sich zu Recht beratend in den Politikdiskurs ein – über die unausgesprochenen Normen ihrer Agenda hat sie sich bislang aber zu wenig verständigt.“ Das lasse sich künftig nur im Zusammenspiel von empirischer Sozialforschung und philosophischer Ethik leisten. Zum Beispiel seien Maßnahmen in den Blick zu nehmen, die Asylsuchende vom Territorium der EU fernhalten sollen – und wie sich das moralisch etwa mit dem Anspruch der Staaten vertrage, allen Geflüchteten Schutz zu gewähren, die ihr Territorium erreicht haben. Vor diesem Hintergrund bringt in der kommenden Woche der Workshop „Studying Migration Policies“ (Über Migrationspolitik forschen) Ergebnisse der empirischen Sozialwissenschaften mit ethischen Theorien aus Philosophie und politischer Theorie zusammen.

„Erst wenn Forscher und Politikberater die normativen Annahmen ihrer migrationspolitischen Ausrichtung moralphilosophisch begründen können und dies in die Politik einbringen, werden sich politische Missverständnisse und Lagerbildungen vermeiden lassen.“ Zugleich sollte die Migrationsethik, eine junge Disziplin der Philosophie, nicht mehr nur Grundsatzüberlegungen anstellen, sondern konkrete Migrationspolitiken moralisch bewerten und dabei empirische Forschungsergebnisse einbeziehen, so Hoesch und die Bonner Soziologin und Mitveranstalterin Dr. Lena Laube. „Es ist dringend zu reflektieren, welche der bestehenden Grenzpolitiken zur Reduktion der Asylsuchenden in der EU ethisch zu rechtfertigen sind.“ Als Beispiele nennen die Wissenschaftler eine Entwicklungshilfe, die mit der Unterstützung des Grenzschutzes afrikanischer Staaten zur Schließung von Transitrouten einhergehe, Online-Aufklärungskampagnen, die negative Aspekte der Flucht nach Europa betonten, sowie anreizgesteuerte Rückführungsprogramme. „Welche Auswirkungen haben diese Maßnahmen für die Betroffenen? Lassen sich hier allgemeine Kriterien formulieren, die bei der Bewertung konkreter Fälle hilfreich sind?“

Dr. Matthias Hoesch
Dr. Matthias Hoesch
© Natalia Frumkina

„Forschung sollte Fragen der Öffentlichkeit beantworten“

Die grenzpolitischen Maßnahmen und die Probleme, die sie mit sich bringen, könnten nur auf Basis des Wissens der empirischen Grenzregime-Forschung beschrieben und ethisch bewertet werden, so Hoesch. Noch laufe die philosophische Debatte jedoch „fast ohne Kenntnisnahme der sozialwissenschaftlichen Forschung“ ab. Sie verbleibe auf der Ebene genereller Fragen – etwa, ob Staaten die Einreise dann beschränken dürfen, wenn alle Staaten wirtschaftlich gleich dastünden. „Wenn Philosophie und Sozialwissenschaften künftig stärker gemeinsam an der ethischen Bewertung konkreter migrationspolitischer Fragen arbeiten“, so Hoesch, „wird auch die Öffentlichkeit profitieren, die sich in Debatten ja intensiv mit Flüchtlingsfragen befasst.“ Der Philosoph unterstreicht mit Blick auf die Migrationspolitikforschung: „Schon die Entscheidung, welchen Fragen in den empirischen Wissenschaften nachgegangen wird, ist oft von normativen Überzeugungen bestimmt.“ Solche Voreinstellungen sollten künftig im Rahmen einer normativen Theorie überprüft werden. „Es gilt, sich den philosophischen und politiktheoretischen Diskursen zu stellen.“

Die Tagung „Studying Migration Policies at the Interface between Empirical Research and Normative Analysis“ (Migrationspolitikforschung an der Schnittstelle zwischen empirischer und normativer Analyse) nimmt diese Fragen vom 10. bis 12. September am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld in den Blick. Der Philosoph Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU und die Soziologin Dr. Lena Laube vom Forum Internationale Wissenschaft der Uni Bonn veranstalten sie gemeinsam mit dem ZiF. Es werden international renommierte Wissenschaftler verschiedener Disziplinen erwartet, darunter der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Joseph Carens von der Universität Toronto und der Philosoph Prof. Dr. David Leslie Miller von der Universität Oxford, die insbesondere Fragen der Migrationsethik in den Blick nehmen. Die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Ayelet Shachar vom Max-Planck-Institut Göttingen, die Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Sandra Lavenex von der Universität Genf sowie der Soziologe und Politikwissenschaftler Prof. Dr. William Walters aus Ottawa setzen sich mit Fragen des Migrationsrecht, der europäischen Migrationspolitik und der Abschiebepolitik auseinander. (maz/vvm)