Können Menschen die Geschichte gestalten?
Interdisziplinäre Tagung über Fragen der Gestaltbarkeit des Geschichtsverlaufs
Mit der Gestaltbarkeit von Geschichte befasst sich im März eine interdisziplinäre Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster. Philosophen, Historiker, Rechtswissenschaftler, Germanisten und Soziologen diskutieren vom 27. bis zum 29. März in Münster die Frage, ob Menschen den Verlauf der Geschichte gestalten, oder ob er ihnen schicksalhaft zustößt. Die Forscher greifen damit eine wissenschaftliche Debatte aus der Zeit von 1750 bis 1850 auf und erörtern sie aus der Gegenwart heraus. Die Philosophen Prof. Dr. Kurt Bayertz und Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster veranstalten die Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“ im Rahmen ihres Forschungsprojektes A2-1 „Die materialistische Weltanschauung im europäischen Kontext des 18. Jahrhunderts“.
„Zwischen 1750 und 1850 wurde die traditionelle Vorstellung von Geschichte durch eine neue abgelöst, nach der uns Geschichte eben nicht nur ‚zustößt‘“, erläutern die Veranstalter im Vorfeld. Es sind demnach die Menschen selbst, die historische Entwicklungen in Gang setzen, vorantreiben und auch gestalten können. „Dem neuen Geschichtsverständnis zufolge handelten Menschen nicht mehr innerhalb einer vorgegebenen kosmischen Ordnung oder nach dem Leitfaden einer göttlichen Vorsehung, sondern auf der Basis von individuellen oder kollektiven Entscheidungen.“
Umstrittene Vorstellung
Die Idee von der Gestaltbarkeit der Geschichte sei allerdings immer umstritten gewesen, heben die Veranstalter hervor. Es gab grundsätzliche, teils philosophisch, teils religiös motivierte Bedenken gegen sie sowie eine Fülle von Einwänden und Fragen, wie Matthias Hoesch ausführt. Als Beispiele nennt er: Können historische Prozesse überhaupt in ihrer Gesamtheit bewusst gesteuert werden? Welche Rolle fällt den Individuen, besonders den „großen Männern“, dabei im Vergleich zu Institutionen und Kollektiven zu? Welche Kollektive sind als die einflussreichen Macher der Geschichte anzusehen: das Volk, das Bürgertum, die Menschheit? Muss die Gestaltung „materialistisch“ an den realen Verhältnissen und Interessen ansetzen oder „idealistisch“ an Ideen und Bildung?
An Attraktivität verlor die Gestaltbarkeitsidee ab etwa 1850, bevor sie durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gelegentlich geradezu in Verruf geriet, wie die Wissenschaftler sagen. So sei die Idee weitgehend aus dem Fokus der Forschung geraten. Auf der Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ wollen die Wissenschaftler daher die Debatten zwischen 1750 und 1850 fächerübergreifend neu analysieren und auf den Prüfstand stellen. (ill/vvm)