Können Menschen die Geschichte gestalten?

Interdisziplinäre Tagung über Fragen der Gestaltbarkeit des Geschichtsverlaufs

Plakat zur Tagung Gestaltbarkeit der Geschichte
Plakat
© Stefan Klatt

Mit der Gestaltbarkeit von Geschichte befasst sich im März eine interdisziplinäre Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster. Philosophen, Historiker, Rechtswissenschaftler, Germanisten und Soziologen diskutieren vom 27. bis zum 29. März in Münster die Frage, ob Menschen den Verlauf der Geschichte gestalten, oder ob er ihnen schicksalhaft zustößt. Die Forscher greifen damit eine wissenschaftliche Debatte aus der Zeit von 1750 bis 1850 auf und erörtern sie aus der Gegenwart heraus. Die Philosophen Prof. Dr. Kurt Bayertz und Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster veranstalten die Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“ im Rahmen ihres Forschungsprojektes A2-1 „Die materialistische Weltanschauung im europäischen Kontext des 18. Jahrhunderts“.

„Zwischen 1750 und 1850 wurde die traditionelle Vorstellung von Geschichte durch eine neue abgelöst, nach der uns Geschichte eben nicht nur ‚zustößt‘“, erläutern die Veranstalter im Vorfeld. Es sind demnach die Menschen selbst, die historische Entwicklungen in Gang setzen, vorantreiben und auch gestalten können. „Dem neuen Geschichtsverständnis zufolge handelten Menschen nicht mehr innerhalb einer vorgegebenen kosmischen Ordnung oder nach dem Leitfaden einer göttlichen Vorsehung, sondern auf der Basis von individuellen oder kollektiven Entscheidungen.“

Umstrittene Vorstellung

Die Idee von der Gestaltbarkeit der Geschichte sei allerdings immer umstritten gewesen, heben die Veranstalter hervor. Es gab grundsätzliche, teils philosophisch, teils religiös motivierte Bedenken gegen sie sowie eine Fülle von Einwänden und Fragen, wie Matthias Hoesch ausführt. Als Beispiele nennt er: Können historische Prozesse überhaupt in ihrer Gesamtheit bewusst gesteuert werden? Welche Rolle fällt den Individuen, besonders den „großen Männern“, dabei im Vergleich zu Institutionen und Kollektiven zu? Welche Kollektive sind als die einflussreichen Macher der Geschichte anzusehen: das Volk, das Bürgertum, die Menschheit? Muss die Gestaltung „materialistisch“ an den realen Verhältnissen und Interessen ansetzen oder „idealistisch“ an Ideen und Bildung?

An Attraktivität verlor die Gestaltbarkeitsidee ab etwa 1850, bevor sie durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gelegentlich geradezu in Verruf geriet, wie die Wissenschaftler sagen. So sei die Idee weitgehend aus dem Fokus der Forschung geraten. Auf der Tagung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ wollen die Wissenschaftler daher die Debatten zwischen 1750 und 1850 fächerübergreifend neu analysieren und auf den Prüfstand stellen. (ill/vvm)

Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“
Hörsaalgebäude des Exzellenzclusters
Raum Jo 101
Johannisstraße 4
48143 Münster

Um Anmeldung bis zum 20.03.2017 wird gebeten unter: matthias.hoesch@uni-muenster.de

Öffentlicher Abendvortrag „We the people“ – Verfassunggebung als Gestaltungsprozess
Prof. Dr. Horst Dreier (Würzburg)

Montag, 27. März, 19.00 Uhr
Hörsaalgebäude des Exzellenzclusters „Religion und Politik“
Hörsaal Jo 1
Johannisstraße 4
48143 Münster

Programm

Montag, 27.03.2017
9:00–10:00 Was könnte mit der These gemeint sein, dass die Menschen die Geschichte machen?
Kurt Bayertz (Münster)
10:00–11:00 Was heißt Geschichte gestalten in der Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts?
Andreas Urs Sommer (Freiburg)
Kaffeepause
11:30–12:30 Warum sich Geschichte nur historiographisch gestalten lässt
Jörn Rüsen (Bochum)
Mittagspause
14:00–15:00 Kontingenz und Verfügbarkeit der Geschichte
Johannes Rohbeck (Dresden)
15:00–16:00 Aufklärung durch Reform des Rechts: Thomasius, Voltaire, Beccaria
Oliver R. Scholz (Münster)
Kaffeepause
16:30–17:30 Gesetzgebung und Geschichte bei Rousseau
Walter Mesch (Münster)
Öffentlicher Abendvortrag
19:00–20:30 „We the people“ – Verfassunggebung als Gestaltungsprozess
Horst Dreier (Würzburg)
Dienstag, 28.03.2017
9:00–10:00 Claiming rights, making history
Thomas Gutmann (Münster)
10:00–11:00 Civilization and the Capacity of Man. Die Diskussion um die Gestaltbarkeit von Geschichte in der schottischen Aufklärung
Annette Meyer (München)
Kaffeepause
11:30–12:30 Geschichtliches Handeln und seine Nemesis – Volneys Les ruines und Herders Adrastea
Wolfgang Proß (Bern)
Mittagspause
14:00–15:00 Faire la Révolution – Finir la Révolution. Über die Gestaltbarkeit von Geschichte im Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1848
Hans-Ulrich Thamer (Münster)
15:00–16:00 Auf dem Weg zur materialistischen Geschichtsauffassung. Anmerkungen zum Streit zwischen Bruno Bauer und Karl Marx
Michael Quante (Münster)
Kaffeepause
16:30–17:30 Von den Stämmen zu den Staaten. Ökonomisches Handeln und die Periodisierung gesellschaftlicher Organisation
Eric Achermann (Münster)
Mittwoch, 29.03.2017
9:00–10:00 Moral versus Wissenschaft? Konkurrierende Visionen aufgeklärter Zukunftsgestaltung bei den „philosophes“ und den Physiokraten
Kirill Abrosimov (Augsburg)
10:00–11:00 Bentham und Condorcet: Zwei Modelle einer wissenschaftlich geleiteten Gestaltung der Zukunft
Matthias Hoesch (Münster)
Kaffeepause
11:30–12:30 Revolutionen als Experimente mit der Gesellschaft
Wolfgang Krohn (Bielefeld)