„Politik an Forschungserkenntnissen rege interessiert“

dpa-Bericht Zum Erkenntnistransfer aus den Geistes- und Sozialwissenschaften

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Viola van Melis
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Das dpa-Dossier Bildung Forschung der Deutschen Presse-Agentur (dpa) befasst sich anlässlich der Flüchtlingskrise mit der Frage, wie lösungsrelevante Erkenntnisse aus den Sozialwissenschaften Politik und Gesellschaft besser übermittelt werden können. Das Zentrum für Wissenschaftskommunikation des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ wird in dem Bericht als Pilotprojekt für die Forschungsvermittlung aus den Geistes- und Sozialwissenschaften dargestellt. „Unsere Erfahrungen lehren“, so die Leiterin des Zentrums für Wissenschaftskommunikation , Viola van Melis, „dass Politiker, Journalisten, Bildungsschaffende und Bürger rege interessiert sind, wenn wir ihnen strukturelle, historische oder ethische Einordnungen aktueller Phänomene der Forscherinnen und Forscher anbieten – seien es philosophische Überlegungen zur Flüchtlingsfrage, soziologische Einschätzungen zum Islam in Europa oder historische und theologische Aussagen zum Verhältnis von Religion und Gewalt.“

Es folgt der dpa-Bericht (dpa-Dossier Bildung Forschung Nr. 04/2016 25. Januar 2016) im Original-Wortlaut:

Flüchtlingskrise: Potenzial der Migrationsforschung mehr nutzen

Von Ursula Mommsen-Henneberger

Berlin (dpa) – Die Flüchtlingskrise zieht sich gegenwärtig wie ein roter Faden durch die gesamte politische Agenda der Außen- und Innenpolitik. Politiker erscheinen zunehmend ratlos angesichts der wachsenden Aufgaben und Schwierigkeiten. Lösungsrelevante Informationen könnten die Sozialwissenschaften beisteuern. Doch dafür braucht es bestimmte Bedingungen, vor allem institutionell abgesicherte Ansprechpartner für Politik und Öffentlichkeit. Für die Migrationsforschung sieht hier der Historiker Jochen Oltmer (Osnabrück) markante Defizite. Bund, Länder und Universitäten seien nun gefragt, vor allem der Bund, sagte der Migrationsforscher dem dpa-Dossier Bildung Forschung.

Für einen Transport von Erkenntnissen aus den Sozialwissenschaften in die Gesellschaft „sind institutionelle Voraussetzungen zentral“, betonte Oltmer vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. „Die Wahrnehmung wissenschaftlicher Positionen wird erheblich gefördert durch das Vorhandensein stabiler Institutionen, denen es gelingt, in Politik und Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen zu werden. Und um rasch schriftliche und mündliche Expertisen erarbeiten zu können, sind gut funktionierende wissenschaftliche Netzwerke unabdingbar, sie arbeiten vor allem dann gut, wenn es institutionelle Kerne gibt.“

Und genau hier sieht Oltmer Defizite bei der Migrationsforschung. Um solche Institutionen in dem absehbar stark nachgefragten Bereich der Flüchtlingsforschung zu fördern, „sind Bund, Länder und Universitäten gefragt – aufgrund der deutlich größeren finanziellen Spielräume vor allem der Bund und damit das Bundesforschungsministerium“, sagte der Historiker.

Auch der Volkswirtschaftler Ludger Wößmann macht sich für eine bessere Nutzung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Praxis stark. „Bisher stand das "logistische" Problem der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge an erster Stelle. Es wird nun aber höchste Zeit, sich der Aufgabe der Integration zu widmen – gerade auch der Integration in den Arbeitsmarkt. Hier gibt es viele Erkenntnisse, die erst sehr langsam in der politischen Diskussion und im politischen Prozess ankommen“, sagte der Leiter des Ifo Zentrums für Bildungsökonomik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

„Es gibt durchaus viele Erkenntnisse der Migrationsforschung, sowohl im Bereich der Bildungsleistungen als auch im Bereich der Arbeitsmarktintegration“, sagte Wößmann dem Dossier. „Allerdings sind die Erkenntnisse aus früheren Migrationswellen nicht unbedingt eins zu eins auf die heutige Situation zu übertragen. Daher besteht aktuell die größte Herausforderung darin, Daten über die Hintergründe, insbesondere die qualifikatorischen, der aktuell bei uns eintreffenden Flüchtlinge zu erhalten.“ Einige Initiativen zu neuen Datenerhebungen liefen bereits, aber sie benötigten Zeit. Wößmann: „Bisher stochern wir bezüglich des qualifikatorischen Hintergrundes der Flüchtlinge weitgehend im Nebel.“

Wößmann für Konsequenzen aus internationalen Studien

Aus der bildungsökonomischen Forschung wisse man, dass jeder Bildungsprozess auf den vorigen aufbaut, so Wößmann. Aus Studien wie PI-SA und TIMSS habe man erfahren, dass zwei Drittel der jungen Syrer selbst in ihrer Muttersprache nur einfachste Aufgaben lösen können. Nach internationalen Bildungsstandards müssten sie als funktionale Analphabeten gelten, gab Wößmann zu bedenken.

Als Konsequenz daraus plädierte er unter anderem dafür, verpflichtende Deutsch-Sprachkurse schnell und flächendeckend einzurichten. Grundschulkinder sollten von Anfang an die normalen Regelklassen besuchen, begleitet von Sprach- und Unterstützungsmaßnahmen. Generell mahnte Wößmann, „eine bessere Integrationsarbeit zu machen als bei früheren Zuwanderungswellen“.

Die Wissenschaftskommunikatorin Viola van Melis sieht nach wie vor insgesamt einen Nachholbedarf an Wissenschaftskommunikation in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ein Pilotprojekt in diesem Bereich ist das 2009 entstandene Zentrum für Wissenschaftskommunikation am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster, wie die Leiterin des Zentrums dem Dossier sagte. Es vermittele Erkenntnisse aus 20 geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, in verständlichen Text- und Veranstaltungsformaten.

„Unsere Erfahrungen lehren, dass Politiker, Journalisten, Bildungsschaffende und Bürger rege interessiert sind, wenn wir ihnen strukturelle, historische oder ethische Einordnungen aktueller Phänomene der Forscherinnen und Forscher anbieten – seien es philosophische Überlegungen zur Flüchtlingsfrage oder zur Biopolitik, soziologische Einschätzungen zum Islam in Europa oder historische und theologische Aussagen zum Verhältnis von Religion und Gewalt“, sagte van Melis. Künftig könnten mehr Universitäten eine solche Wissenschaftskommunikation strukturell verankern, die die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschungen in den Mittelpunkt stellt, regte sie an.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat eigens eine Förderlinie zum Erkenntnistransfer aufgelegt, um damit den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis in allen wissenschaftlichen Disziplinen zu unterstützen. Doch darunter sind nur wenige geförderte Projekte aus den Sozialwissenschaften. Der Grund: Es gibt zu wenig Bewerbungen.

Mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de

Das dpa-Interview im Original-dpa-Dossier