Der besondere Status der Kirchen in der EU

GEKE-Präsident Bischof Weber und Politikwissenschaftler Willems über Religionen in Europa

News-politik-der-kirchen-in-europa

Prof. Dr. Friedrich Weber und Prof. Dr. Ulrich Willems  (v.l.)

Über die politische Rolle der christlichen Kirchen in der Europäischen Union haben der Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), der ehemalige Braunschweiger Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber, und der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ diskutiert. Die Veranstaltung der Reihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“ trug den Titel „Europa und die Verantwortung der Religionsgemeinschaften“. Die Referenten sprachen über den besonderen Status, den der Vertrag von Lissabon den Kirchen seit 2009 in der EU zuschreibt, und welche politischen Schlussfolgerungen sich daraus auch im Vergleich zu zivilgesellschaftlichen Organisationen ergeben. Die politische Durchsetzungskraft der Kirchen in der EU-Politik schätzten die Referenten unterschiedlich sein. Als wichtigste politische Aufgabe der Kirchen in der EU nannte Bischof Weber den Einsatz für den Frieden in Europa.

Button Hoerfunk Service

Ton-Mitschnitt der Diskussion

Mit dem Vertrag von Lissabon sicherten die damals 27 EU-Mitgliedstaaten den Religionsgemeinschaften und Kirchen den rechtlichen Status zu, den ihnen die jeweiligen Nationalstaaten bereits zuschrieben, wie der GEKE-Präsident darlegte. Sie legten zudem einen regelmäßigen Dialog zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften und den Institutionen der EU fest. „Artikel 17 des EU-Vertrags von 2009 macht deutlich, dass die aktive Teilnahme der Religionen bei der politischen Mitgestaltung der EU gewollt ist. Sie sollen am gesamteuropäischen Wohl produktiv mitwirken“, sagte der Bischof. Das Europäische Parlament, der Europäische Rat und die Europäische Kommission haben nach seiner Einschätzung in den Kirchen einen „kritisch-konstruktiven Partner“ gefunden, um die europäische Integration zu fördern und ein wertebasiertes Europa zu verwirklichen.

Politikwissenschaftler Willems beleuchtete in einem historischen Abriss das Verhältnis zwischen der europäischen Gemeinschaft und den christlichen Kirchen von 1950 bis heute. Er legte dar, wie sich die Gemeinschaft seit dem Ende des Warschauer Paktes und dem Fall des Eisernen Vorhangs bis in die 1990er Jahre von einer Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Union entwickelte und wie im Zuge dieses Prozesses das Interesse Europas an den Kirchen wuchs. Zugleich hätten die Kirchen ihr europäisches Engagement in dieser Phase verstärkt. Die Zusammenarbeit sei schließlich in Artikel 17 des Lissabon-Vertrags „unionsrechtlich“ festgeschrieben worden. „Den Kirchen ist es durch eine sehr intensive Lobbyarbeit gelungen, im Vergleich zu zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International eine Sonderstellung zu erhalten“, unterstrich der Politikwissenschaftler. Den Dialog der EU-Institutionen mit Organisationen der Zivilgesellschaft schreibe der Vertrag in einem eigenen Artikel fest, der ihnen aber keine vergleichbare Sonderstellung zuschreibe. „Vorzugswürdig wäre es gewesen, Religionen und Zivilgesellschaft in einem Artikel gemeinsam zu behandeln“, so Prof. Willems. Denn eine Sonderstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften sei in einem säkularen und vielfältigen Europa nicht länger zu rechtfertigen.

Mit Blick auf künftige politische Entscheidungsprozesse in der EU plädierte Prof. Willems für eine stärkere Zusammenarbeit der christlichen Kirchen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. Nur so hätten die Kirchen „angesichts ihrer mangelnden eigenen Konfliktfähigkeit“ mehr Chancen als bisher, ihre Ziele wie eine stärkere Berücksichtigung internationaler Gerechtigkeit in der EU-Politik auch gegen starke entgegenstehende gesellschaftliche Interessen aus Landwirtschaft und Industrie zu erreichen. Die Kirchen seien auf europäischer Ebene aber auch deshalb wenig durchsetzungsfähig, weil sie in den einzelnen EU-Mitgliedsländern in vielen politischen Fragen sehr unterschiedliche Positionen verträten, so der Politikwissenschaftler.

Bischof Weber hingegen schrieb den Kirchen eine besondere politische Stärke zu. Sie liege darin, dass sie einerseits „dank des Glaubensbekenntnisses und der Taufe“ grenzübergreifend seien, andererseits durch Geschichte und Kultur eine ausgeprägte lokale Identität besäßen. „Die Prägekraft des Christentums in und für Europa ist von entscheidender Bedeutung, auch für Menschen, die nicht unbedingt der Kirche nahe stehen“, so Weber. Als Beispiel nannte er den Schutz des Sonntags.

Angesichts einer wachsenden Vielfalt an Religionsgemeinschaften in Europa sagte der GEKE-Präsident, es müssten Regeln für das Nebeneinander der Religionen und Kirchen gefunden werden. Andernfalls würden sie als politische Gesprächspartner nicht ernst genommen und könnten nicht gemeinsam einen verantwortlichen Beitrag für die Zukunft Europas leisten. „Frieden in unserer Gesellschaft hat viel mit dem Frieden zwischen den Religionen zu tun.“ Bischof Weber hob die Verantwortung der christlichen Kirchen für den Frieden in Europa hervor. Das sei ihre wichtigste Aufgabe in der EU. „Vor allem anderen: Religionen sollen für den Frieden beten und arbeiten.“ Auch sollten die Kirchen in Europa für den Schutz des menschlichen Lebens vom Anfang bis zum Ende eintreten, „der nicht bestimmte Entwicklungsstadien, bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie Behinderte, Kranke und Alte oder Zuwanderer ausschließt.“

Plakat

Veranstaltungsreihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“

Moderator des Abends war der evangelische Theologe und Mit-Organisator der Reihe Prof. Dr. Reinhard Achenbach vom Exzellenzcluster. Das nächste Streitgespräch am Dienstag, 1. Juli, befasst sich mit dem Verhältnis von „Religion und Bildung“. Es diskutieren der katholische Theologe Prof. Dr. Hans-Georg Ziebertz aus Würzburg und der evangelische Theologe Prof. Dr. Bernhard Dressler aus Marburg. Die Moderation übernimmt der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack vom Exzellenzcluster.

In der Reihe „Streitgespräche über Gott und die Welt“ diskutieren von April bis Juli Theologen und Nicht-Theologen aktuelle Themen wie Hirnforschung, Kosmologie, Wirtschaftsethik, Friedenspolitik oder das Miteinander der Religionen und ihr Verhältnis zum Atheismus. Veranstalter sind der Exzellenzcluster und die Evangelisch-Theologische Fakultät. Die Streitgespräche sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr in Hörsaal F1 im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Das Format trägt den Untertitel „Disputationen zwischen Theologie, Natur- und Gesellschaftswissenschaften“. (ska/vvm)