„Die Deutschen brauchen auch heute noch Rituale“

Soziologe beleuchtet die Faszination von Riten in modernen Gesellschaften

Prof Dr Bernhard Giesen G

Prof. Dr. Bernhard Giesen hielt am Dienstag den Eröffnungsvortrag der Ringvorlesung „Rituale der Amtseinsetzung“.

Die Deutschen brauchen nach Einschätzung des Konstanzer Soziologen Prof. Dr. Bernhard Giesen auch heute noch Rituale. „Millionen sitzen vor dem Fernseher und verfolgen weinend die Krönung von Monarchen oder die Beerdigung von Papst Johannes Paul II. oder Prinzessin Diana“, sagte er am Dienstag zum Auftakt der Ringvorlesung „Rituale der Amtseinsetzung“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen-Wilhelms Universität Münster (WWU). Solche Rituale würden als „wirklich“ wahrgenommen und übten eine große Kraft und Faszination aus. „Es stimmt nicht, dass sich dies alles unter dem kalten Stern der Rationalität aufgelöst hat“, unterstrich der Forscher.

„Es geht in der Moderne genauso wenig ohne Rituale wie in der Vormoderne. Wir brauchen sie als letzte Versicherung gegen das Auseinanderfließen der Gesellschaft“, sagte Prof. Dr. Giesen, der an der Universität Konstanz im Vorstand des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ sitzt. So seien auch die Religionen, anders als lange vermutet, nicht ins Private gerutscht, sondern „sehr öffentlich und ungeheuer rituell“. Als Beispiel nannte der Wissenschaftler die eine Million Jugendlichen, die 2005 beim Weltjugendtag in Köln Papst Benedikt XVI. zugejubelt hätten.

Auch im privaten und politischen Bereich seien Rituale weiterhin üblich, erklärte Prof. Dr. Giesen. Als Beispiele nannte er Umarmungen zur Begrüßung, Abstimmungen am Ende von Gremiensitzungen, Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit und für den Frieden sowie Blockaden in Mutlangen. „Solche Aktionen sind Hoffnung- und Widerstandsrituale“, sagte der Soziologe. Sie könnten helfen, Identität zu erschaffen. Die Europäische Union habe genau hier ein Problem. Ihr fehlten bislang die mit erlebbaren Augenblicke, um eine echte Gemeinschaft zu begründen.

Wichtig an Ritualen ist nach den Worten des Experten das „sinnliche Erleben“. „Identitäten leben durch symbolische Handlungen, ansonsten bleiben sie blass.“ Außerdem dürften solche Riten nicht übermäßig oft in Anspruch genommen werden. „Wenn man sich an das Außerordentliche gewöhnt, schaut am Ende doch keiner mehr hin“, sagte Prof. Dr. Bernhard Giesen.
Thema der neuen Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ sind „Rituale der Amtseinsetzung“ von Otto dem Großen bis Barack Obama. Die 14 öffentlichen Vorträge im Hörsaal F 2 des Fürstenberghauses beleuchten, wie Menschen feierlich in geistliche und weltliche Ämter eingeführt werden. Die Bandbreite reicht von mittelalterlichen Kaisern und Kalifen über Fürstbischöfe der Frühen Neuzeit bis zu Päpsten und Präsidenten der Gegenwart. Am nächsten Dienstag spricht Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bauer vom Exzellenzcluster über kalifale Repräsentation in Münzen und Gedichten des 10. Jahrhundert. (log)


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