uni kunst kultur-Magazin - Sommer 2024
uni kunst kultur-Magazin - Sommer 2024

Materielles Kulturerbe im digitalen Blick

Forschungsdatensammlung zu 150.000 christlichen Kunstschätzen
Projektmitarbeiter:innen bei der Sichtung von Kunstobjekten
© Meike Reimers

Schatzsuche im Bistum Münster
Über 700 Kirchen und Kapellen in Pfarreibesitz gibt es im nordrhein-westfälischen Teil des Bistums Münster. Im Durchschnitt sind in jedem dieser Sakralbauten etwa 200 Ausstattungsgegenstände zu finden: Skulpturen, Gemälde, Vasa Sacra (sakrales Gerät), Grabmäler, Paramente, Epitaphien und Gedenktafeln, Wandmalerei und Mosaike, Glasmalerei, liturgische Ausstattung (Altäre, Taufbecken, Weihwasserbecken, Kanzel, Reliquienschränke, Ambo, Tabernakel) sowie Kirchenmobiliar (Beichtstühle, Buchpulte, historische Sakristei- bzw. Paramentenschränke und Bänke). Häufig gibt es keine oder kaum Aufzeichnungen, welche Objekte in den Sakralräumen, ihren Sakristeien und Türmen, in Pfarrhäusern, in Tresoren und Kisten, in Schränken und auf Dachböden warten.

Dieses mobile Kunstgut ist Gegenstand des Forschungsprojekts „Digitalisierung Christlichen Kulturerbes im Bistum Münster“. Das an der Arbeitsstelle für Christliche Bildtheorie, Theologische Ästhetik und Bilddidaktik (ACHRIBI) angesiedelte Projekt wird von 2023 bis 2029 mit 2,36 Mio. Euro durch das Bistum Münster gefördert. Folgende Aufgaben werden in dieser Zeit bearbeitet:

  1. Es wird eine Forschungsdatensammlung mit ca. 150.000 normierten Datensätzen angelegt, die Informationen zu den Objekten und dokumentarische Fotografien enthalten.
  2. Aus der voraussichtlich über 15 Terabyte großen Datenbank werden kuratierte Datensätze in Auswahl veröffentlicht und für Forschungszwecke zugänglich gemacht – im Bildarchiv Foto Marburg des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte sowie in der Deutschen Digitalen Bibliothek und im Open Research Knowledge Graph der European Open Science Cloud.
  3. Mit ausgewählten Objekten werden verschiedene digitale Vermittlungsformate (virtuelle Ausstellungen, 3D-Reproduktionen, Video- und Podcastproduktionen usw.) erprobt. Dies dient nicht nur dem Wissenstransfer aus dem Projekt heraus, so lassen sich auch aus einer didaktischen Perspektive Fragen und Modelle der Vermittlung christlichen Kulturerbes im digitalen Raum erarbeiten.

Die Inventarisierung der Kunstschätze in deutschen Bistümern wurde und wird bisher meist für den internen Gebrauch von eigenen Abteilungen vorgenommen. Da diese Forschungsdaten nicht für die Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, bleiben die Kunstschätze so – nicht nur in digitaler Hinsicht – verborgen. Bei einem Drittel der Kirchen und Kapellen im Bistum Münster existieren keinerlei Aufzeichnungen oder zugängliche Fotografien der Kunstgegenstände, die das Kulturerbe der Gemeinden darstellen.

Das Forschungsprojekt der ACHRIBI will das in Zusammenarbeit mit der Gruppe Kunstpflege des Bischöflichen Generalvikariats ändern und wagt einen ehrgeizigen Schritt in die Zukunft digitaler Transformation. So kann eine digitale Grundlagenarbeit erfolgen, die in deutschen Bistümern einmalig ist. Im Rahmen des Projekts werden völlig neue Standards in der Verknüpfung mit kontrollierten Vokabularen und Normdaten entwickelt, damit die Datensätze auch in öffentlichen Datenbanken nachnutzbar sind. Um dort mittels übergeordneter Filter findbar zu sein, müssen die Daten beim Import bestimmten Vorgaben entsprechen – damit zum Beispiel die Künstler:innen in der internen Erfassungsmaske in gleicher Schreibweise angesetzt sind wie in der Zieldatenbank. Die Veröffentlichung soll Open Access erfolgen, um die wissenschaftlichen Daten möglichst einfach zugänglich zu machen. Das stellt das Projekt insbesondere bei der Publikation von Fotografien vor große Herausforderungen: es sind Eigentumsrechte, Urheberrechte an den Werken zu klären und datenschutzrechtliche Bestimmungen zu beachten. Aber der Einsatz lohnt sich – Open Science ist als Zukunft wissenschaftlichen Arbeitens auch eine politische Einstellung, die das Projekt im Sinne des Kultur-Erbens vertritt.

Interdisziplinäre Forschung an der ACHRIBI
Interdisziplinäre Zusammenarbeit hat an der ACHRIBI seit über 25 Jahren Tradition. Für die Umsetzung dieses Projekts wurde ein Team aus Theolog:innen und Kunsthistoriker:innen gebildet, deren Expertise besonders im Bereich der digitalen Inventarisierung des christlichen Kunst- und Kulturerbes liegt. Verstärkt wird das Team nach Bedarf durch die Mitarbeiter:innen des Seminars für Historische Theologie und ihre Didaktik. Das Projektteam arbeitet eng mit der Gruppe 163 – Kunstpflege in der Abteilung Kunst und Kultur des Bischöflichen Generalvikariats des Bistums Münster zusammen. Diese war in der Vergangenheit mit der Inventarisierung betraut und wird die langfristige Aktualisierung der Forschungsdaten nach Abschluss des Projektzeitraums übernehmen.

Im Feld Research Software Engineering kommen die DH-Spezialist:innen des Service Center for Digital Humanities der ULB Münster hinzu. Kolleg:innen der Task Area 2 der Initiative Nationale Forschungsinfrastruktur for Culture (NFDI4Culture) am Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte - Bildarchiv Foto Marburg der Philipps-Universität Marburg beraten zusätzlich im Bereich Datenmanagement, digitale Standards, Datenqualität und digitale Fotografie.

citizen science: Bürger:innenwissen sichern
Ein zentraler Gedanke des Konzepts Kulturerbe ist das Recht auf Teilhabe. Es hat sich gezeigt, dass die Bürger:innen in den Gemeinden ein reichhaltiges Wissen haben, das allerdings nur mündlich tradiert wird oder lokal in verstreuten analogen Quellen dokumentiert ist. Nur in Einzelfällen wurde beides bereits aufgearbeitet, aber nicht (digital) publiziert und steht daher der Öffentlichkeit oder für Forschungszwecke nicht zur Verfügung und kann perspektivisch sogar verloren gehen. Um dieses Wissen zu bewahren, werden Heimatforscher:innen, Gemeindemitglieder, Küster:innen und Pfarrer zur Mitarbeit an dem Projekt eingeladen und nach deren Erinnerungen befragt: Welche Kunstschätze verbergen sich in Ihrer Kirche? Sind sie noch dort, wo sie ursprünglich genutzt wurden? Wie sind sie in die Kirche gekommen? Die Tiefe der Erschließung kann durch diese zusätzlichen Informationen verbessert werden. Bürger:innen und Gemeindemitglieder auf diese Weise an der Erforschung ihres Kulturerbes zu beteiligen, ist ein völlig neuer Ansatz in der kirchlichen Inventarisierung in Deutschland. Der identitätsstiftende Charakter des materiellen Kulturerbes, das in den Kirchen und Kapellen teilweise ohne jegliche Aufzeichnung noch verborgen liegt, wird durch die Partizipation von Bürger:innen vor Ort in besonderer Weise in die Forschungsarbeit einbezogen.

Inventarisieren im Bistum Münster als Detektivarbeit
Der nordrhein-westfälische Teil des Bistums Münster reicht vom Niederrhein und Teilen des Ruhrgebiets im Südwesten bis zu den Kreisen Steinfurt und Warendorf im Nordosten. Von der kleinen romanischen Klosterkirche über den modernen Sakralbau bis hin zu großen neogotischen Kirchen mit reichlich Kunstgegenständen begegnen dem Projektteam auf diesem Gebiet Objekte aus einem Zeitraum von 1200 Jahren. Historisch bedingt machen die Relikte des 19. Jahrhunderts und aus den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einen großen Teil aus.

Inventarisierung – vom Lateinischen inventarium für „Gesamtheit des Gefundenen“ – meint die Bestandsaufnahme von Objekten in Hinsicht auf bestimmte Merkmale. Im Dezember 2023 startete die Inventarisierungsinitiative des Projekts. Während der Projektlaufzeit besuchen die Mitarbeiter:innen dekanatsweise die Kirchen, um die Kunstschätze der Pfarreien flächendeckend zu inventarisieren. Sie sichten, erfassen und fotografieren die künstlerischen Ausstattungsgegenstände vor Ort und pflegen die Daten in eine Datenbank ein. Dabei ist auch praktisches Geschick gefragt: Es gilt, gut beleuchtete Orte fürs Fotografieren zu finden, Skulpturen im Schrank auf der Orgelempore auszupacken, Taufbecken zu vermessen, ikonografische Zuordnungen zu diskutieren, Monstranzen zu begutachten. In der Sakristei werden Paramente inspiziert – handelt es sich um historisch wertvolle Kaseln oder um neue „Katalogware“? Entscheidend für die Aufnahme in die Datenbank ist der (kunst-)historische und künstlerische Wert der Kunstgegenstände. Um die Geschichte der Objekte zu ermitteln, braucht es oftmals detektivisches Gespür: Ein Pfarrer erklärt, die Leuchter auf dem Altar stammten aus einer benachbarten Kirche der Gemeinde. Der Küster in sechster Generation kann das berichtigen: Ein Vorgänger des Pfarrers brachte die Leuchter als Urlaubssouvenir mit. Und mit schöner Regelmäßigkeit zeigt sich: Wenn die Begehung eigentlich schon vorbei ist, findet sich immer noch eine weitere Kiste oder Abstellkammer oder ein Schränkchen, häufig sehr verstaubt und mit Spinnenweben überzogen, wo noch Schätze zu finden sind.

Im Bistum Münster wurde bereits in den 1970er Jahren mit der Inventarisierung begonnen. Es gibt also zahlreiche analoge Inventare und Fotografien, Karteikarten, Berichte zu Restaurierungen sowie bestehende Datensätze unterschiedlicher Qualität, die alle gesichtet und in die neuen digitalen Inventare integriert werden müssen. Die Ergebnisse werden den Gemeinden anschließend als Inventare zur Verfügung gestellt.

Objektbiografien digital neu erzählen
In einer Zeit, in der das Christentum zum Kulturerbe wird, ist die zentrale Frage in vielen wissenschaftlichen Diskursen: Welche Bedeutung hat dieses Kulturerbe heute? Weder staatliche Stellen noch die Kirchengemeinden können das Thema in seinem vollen Umfang im Blick haben. Hier leistet das Forschungsprojekt Grundlagenarbeit, indem das Kulturgut über die Forschungsdatenbank zugänglich gemacht und im Transfer der Forschungsergebnisse seine Bedeutung vermittelt wird. Schließlich ist auch der konservatorische Aspekt des Projekts in einer sich stark verändernden Zeit zunehmender Säkularisierung nicht zu vernachlässigen.

Im Sinne des material turn werden die Objekte außerhalb des liturgischen Gebrauchs auch in ihrer Materialität in den Blick genommen. Objektbiografien zeugen von der Spannung zwischen traditioneller Wertschätzung und neuen Deutungen. Die Beobachtung, in welche vielfältigen Interpretationszusammenhänge christliche Kunstgegenstände eingebettet waren und sind, sensibilisiert auch den eigenen wissenschaftlichen Blick.
Wenn das Projektteam während der Außeneinsätze interessante Themen, Werkgruppen, besondere Einzelstücke oder große Linien ausmacht, werden diese gesammelt und für Vermittlungszwecke oder für die tiefere Erfassung vorgemerkt. Die Forschungsdatensammlung hat damit auch religionsgeschichtliche Bedeutung. Die künstlerische Ausstattung der Kirchenräume wird nicht nur als Kunst, sondern auch als Kulturgut betrachtet – als Kulturerbe, dessen Geschichten erzählt werden wollen.

Christliches Kulturerbe vermitteln? Ein kreativer Workspace
In dem Projekt „Digitalisierung Christlichen Kulturerbes im Bistum Münster“ geht es also nicht nur darum, digitale Inventare zu erstellen und Wissen zu sichern. In einem kreativen Workspace werden verschiedene didaktische Konzepte zur digitalen Vermittlung christlichen Kulturerbes entwickelt. Wie ein Mosaik ergeben diese unterschiedlichen Formate ein „digitales Diözesanmuseum“.

Ein solches Projekt läuft aktuell in Kooperation mit dem Museum Abtei Liesborn. Eine Auswahl aus der Kruzifixsammlung des Museums ist bereits entlang des Projekt-Datenfeldkatalogs digital inventarisiert und aufwändig fotografiert worden. Anhand dieser Daten werden in einem Hauptseminar fortgeschrittene Studierende in die Herausforderungen der Digitalisierung christlichen Kulturerbes und das zugehörige Forschungsdatenmanagement eingeführt. Es folgt eine Besichtigung der Kruzifixsammlung – der größten in Europa – vor Ort. Abschließend wird zu ausgesuchten Objekten eine virtuelle Ausstellung in der Deutschen Digitalen Bibliothek erstellt.

Und für Herbst 2024 ist der Start einer Videoproduktion in Planung: Prof. Norbert Köster wird – so die Idee – in acht Folgen eine Reise quer durch die Kirchen der acht Dekanate des Bistums Münster unternehmen und anhand von Objekten unterschiedlicher Gattungen in einem Streifzug durch die lokale Geschichte einzelne Epochen vom Mittelalter bis heute in den Blick nehmen.

Schließlich gilt für alle virtuellen Formate: Sie sind keinesfalls als Ersatz für eine „analoge“ Betrachtung des Originals gedacht. Die Forschungsdatensammlung dient vielmehr als Werkzeug für eine strukturierte konservatorische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kunstgut und die Vermittlung christlichen Kulturerbes. Forscher:innen und interessierte Bürger:innen sind eingeladen, die Schätze aus den Kirchen und Kapellen digital zu entdecken – um anhand der Objekte in die Geschichte des Christentums einzutauchen, um ausgesuchte Artefakte kennenzulernen oder um sich von ihrer Historie und den zugehörigen Legenden inspirieren zu lassen.

| Carolin Hemsing


Aktuelle Informationen zum Projekt auf der Homepage:
https://www.uni-muenster.de/FB2/dck/