Antrittsvorlesung der Direktorin des ICS zum Thema „Migration und Zugehörigkeit“

Vor circa 250 Gästen aus Wissenschaft, Politik und Kirche hielt die neue Direktorin des ICS, Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins, am Freitag, den 11. Juni 2010 ihre Antrittsvorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät im Auditorium maximum der Universität Münster. Die Sozialethikerin sprach über das Thema „Migration und Zugehörigkeit“. Wir dokumentieren eine knappe Zusammenfassung der Kernthesen ihres Vortrags:

Antrittsvorlesung Mhs 4 KlInternationale Migration gehört längst zur Normalität einer globalisierten Welt. Für Akteure und Betroffene bedeutet Migration eine schwierige Normalität: Für Migrantinnen und Migranten und ihre Familien geht sie nicht nur mit der Erschließung neuer Möglichkeiten, sondern mit Entbehrungen, Unsicherheit, Marginalisierung und Exklusionserfahrungen einher. Den aufnehmenden Gesellschaften fordert sie neue soziale Praxen und politische Handlungsmuster ab – auf allen Ebenen, von der Nachbarschaft und der einzelnen Kommune bis hin zu suprastaatlichen Kooperationszusammenhängen.

Besonders problematisch ist die Situation der sogenannten irregulären Migranten, die ohne legalen Aufenthaltsstatus außerhalb ihres Heimatlandes leben. Während zunehmende Mobilität von Gütern, Dienstleistungen und Kapital als Fortschritt geschätzt werden, wird die Mobilität menschlicher Arbeit durch restriktive Migrationspolitiken erheblich eingeschränkt. Angesichts der demographischen und ökonomischen Bedeutung von Arbeitsmigration für die Aufnahmegesellschaften im Westen und Norden der Welt ist das paradox; Irregularität mit allen problematischen Begleiterscheinungen für Migranten und Aufnahmegesellschaften wird dadurch erst hervorgebracht.Antrittsvorlesung Mhs 2 Kl

In dieser Spannung liegen schwerwiegende Gerechtigkeitsprobleme: Souveränität über die eigenen Grenzen gehört zu den Konstitutionsprinzipien von Nationalstaaten, die damit über das Recht verfügen, Menschen von ihrem Territorium auszuschließen. Die Mitgliedschaft in einer Rechtsgemeinschaft ist aber das erste und wichtigste Gut, das ein Gemeinwesen zu verteilen hat; damit werden alle weiteren Distributionsentscheidungen vorstrukturiert. Die katholische Soziallehre fordert daher, ausgehend von der Auffassung der „Einheit der Menschheitsfamilie“ und der „Gemeinwidmung der Güter“, ein Recht auf Freizügigkeit. Es ist eine Voraussetzung dafür, dass Menschenrechte, Freiheit und Zugang zum Lebensnotwendigen für alle Menschen dieser Erde verwirklicht werden können.

Eine sozialethische Theorie globaler Gerechtigkeit ordnet dementsprechend alle besonderen Rechts- und Eigentumstitel auf individueller wie nationaler Ebene dem Weltbürgerrecht und der universellen Bestimmung der Güter prinzipiell nach. Ebenso wenig wie das private Eigentum absolut geschützt ist, gelten Ordnungen, die Eigentum(srechte) sichern, unbedingt und unter allen Umständen. Nationalstaatliche Verteilungsordnungen können dann als legitim gelten, wenn öffentliche Güter wie intensive demokratische Beteiligung und gesellschaftliche Solidarität nur auf der Ebene überschaubarer politischer Einheiten möglich sind; die Staaten können aber weder aus der Verantwortung für die globale Ebene noch aus subsidiären Verpflichtungen globaler Instanzen für Fälle entlassen werden, in denen Nationalstaaten versagen. Nicht zu rechtfertigen sind daher protektionistische Abschottungen nationaler Arbeitsmärkte gegenüber Migranten sowie die Verweigerung sozialer Mindeststandards und Partizipationsrechte für alle, die zur Gesellschaftsentwicklung beitragen – unabhängig davon, welchen rechtlichen Zugehörigkeitsstatus die Einzelnen haben.

Internationale Migration wird zum Prüfstein einer Ethik globaler Gerechtigkeit. Dem politisch unabweisbaren Handlungsdruck ist dauerhaft nicht zu begegnen, indem die Mauern um die Wohlstandsinseln immer höher gezogen werden, sondern nur durch Konzepte globaler politischer Steuerung, welche an der Leitidee der Einheit der Menschheitsfamilie Maß nehmen. Die leibhaftige Präsenz der weltweit wirksamen Dynamiken von Armut und Exklusion in Gestalt der Migranten, um deren Zugehörigkeits- und Beteiligungsrechte – mit ungleichen Waffen – gestritten wird, erfordert Einwanderungs- und Integrationspolitiken, die dem Anspruch menschenrechtlicher Anerkennung, dem Recht auf Zugehörigkeit und den Anforderungen von Beteiligungs- und Verteilungsgerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder genügen. Anstatt ein Vorrecht der „Immer-schon-da-Gewesenen“ zu behaupten, geht ein Ethos globaler Solidarität von einer grundlegenden Symmetrie zwischen Migranten und Eingesessenen aus. Darin dürfte eine weitgehende Konvergenz zwischen einem biblisch-christlichen Ansatz und philosophischen Traditionen des Kosmopolitismus aufweisbar sein.

Antrittsvorlesung Mhs 3 KlDas Thema „Migration und Zugehörigkeit“ steht paradigmatisch für eine christliche Sozialethik, die von einem theologisch reflektierten Standpunkt aus einen kontextsensiblen ethischen Universalismus argumentativ vertritt. Diese Sozialethik bildet den Kern dessen, was in der Münsteraner Tradition „Christliche Sozialwissenschaften“ genannt wird und damit auf die unverzichtbare Standpunkthaftigkeit christlicher Ethik sowie auf die unerlässliche Einbettung des Faches in den Kanon der Human- und Sozialwissenschaften verweist.


Die Antrittsvorlesung wird veröffentlicht im Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, Bd. 51 (2010), das im September 2010 erscheinen wird.