Anfang Februar 2025 konnte eine Delegation der an „Asking the Pope for Help“ beteiligten Stiftungen das Apostolische Archiv des Vatikans besichtigen.
Anfang Februar 2025 besichtigte eine Delegation der an „Asking the Pope for Help“ beteiligten Forschenden und Stiftungen das Apostolische Archiv des Vatikans. Ein Highlight war der Blick vom Turm der Winde auf den Petersdom. „Asking the Pope for Help“ ist das Vorläuferprojekt des jetzt bewilligten Akademienvorhabens.
© Uni MS | Johannes Wulf

„Ich bin im Forscherhimmel angekommen!“

Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf über das Langzeitprojekt „Der Vatikan und die Verfolgung der Juden in Europa“

Für seine Forschungen zu Bittschreiben jüdischer Menschen an Papst Pius XII. aus der Zeit der Schoah erhält  Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf eine Langzeitförderung von 15,4 Millionen Euro. Die Laufzeit für das Projekt „Der Vatikan und die Verfolgung der Juden in Europa“ beträgt 25 Jahre. Das entsprechende Programm der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften für geisteswissenschaftliche Studien ist weltweit einzigartig.

Die Fördersumme stellen die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste sowie die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften Hubert Wolf und seinem Team zur Verfügung. Neben Hubert Wolf sind der Theologe Prof. Dr. Michael Seewald und der Wirtschaftsinformatiker  Prof. Dr. Jan vom Brocke federführend mit dabei.

Das Team des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte wird rund 10.000 Bittschreiben jüdischer Menschen an den Vatikan aus der NS-Zeit und die dazugehörige Korrespondenz der Kurie online veröffentlichen, die Quellen analysieren und die Lebenswege der verfolgten Menschen nachzeichnen. Im Interview mit unserer Fakultät spricht Hubert Wolf über die Herausforderungen dieses Projekts.

 

Prof. Dr. Hubert Wolf in der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl
Hubert Wolf nutzte die Gelegenheit, das Projekt in der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl zu präsentieren.
© KTF | Jana Haack

Herr Professor Wolf, was bedeutet die Förderung in Höhe von 15,4 Millionen Euro für Sie persönlich?

Um es mit Pathos zu sagen: Ich bin im Forscherhimmel angekommen! Ein so wichtiges Vorhaben mit einem interdisziplinären Team in einem exzellenten Umfeld und mit einer Perspektive für 25 Jahre durchführen zu dürfen: Das ist einfach nur großartig. Die Edition der Bittbriefe an den Papst ist für mich ein Herzensanliegen.

Und die langfristige Perspektive ist besonders für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wichtig. Denn die Teammitglieder in drittmittelfinanzierten Projekten werden nur befristet beschäftigt und stehen nach dem Ende des Vorhabens oft vor dem Nichts, auch wenn sie hochqualifiziert sind und ausgezeichnete Arbeit leisten. Da ist das deutsche Wissenschaftssystem immer noch knallhart und nicht selten ungerecht.

Warum ist eine solche finanzielle Unterstützung für die Forschung so wichtig?

Ein Vorhaben in dieser Größenordnung ist sonst nicht zu stemmen. Und das Vorhaben ist nur in dieser Größenordnung denkbar. Es reicht nicht, nur einzelne Bittschreiben von Menschen, die als jüdisch verfolgt wurden, zugänglich zu machen und diese womöglich als exemplarisch darzustellen. Dafür ist die Vielfalt der Schreibenden viel zu groß.

Die Briefe spiegeln ein äußerst breites Spektrum des Jüdischseins wider: Die Verfasserinnen und Verfasser sind katholisch getauft oder gehören unterschiedlichen religiösen Strömungen innerhalb des Judentums an, sie stammen aus zahlreichen verschiedenen Ländern und allen sozialen Schichten. Es sind auch sämtliche Altersgruppen vertreten, vom Kind bis zum Greis. Jedes Schicksal zählt. Und es muss uns ein Anliegen sein, so viele Verfolgte wie möglich wieder als Individuen sichtbar zu machen, ihnen also gewissermaßen wieder ein Gesicht und eine Stimme zu geben.

Der damalige deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Dr. Bernhard Kotsch, erklärte im Januar 2025, das Vorhaben stehe im deutschen Staatsinteresse. Ist das so?

Ja, das kann man tatsächlich so sagen. Die Auseinandersetzung mit der Schoah ist in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung ein zentraler Bestandteil der politischen Kultur. „Nie wieder Auschwitz!“, lautet kurz gefasst der Auftrag. Doch die Erinnerungskultur steht derzeit vor vielen Herausforderungen: Es gibt immer weniger Zeitzeugen, die Erinnerung droht in Ritualen zu erstarren - und die Stimmen, die einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen möchten, werden lauter. Unser Vorhaben bietet große Chancen für neue Formen des Erinnerns. Wir legen deswegen auch größten Wert darauf, unsere Quellen offen zugänglich online zu publizieren und sie darüber hinaus für die Wissenschaftskommunikation und die politische Bildung nutzbar zu machen.

Aktenstudium im Archiv der Jesuiten in Rom: Dr. Elisabeth-Marie Richter
Aktenstudium im Archiv der Jesuiten in Rom: Dr. Elisabeth-Marie Richter ist Expertin für Handschriften und Sprachen.
© KTF | Jana Haack

Sie und Ihr Team haben schon mehr als 2.000 Schreiben jüdischer Menschen gelesen. Können Sie schon erste Schlüsse ziehen? Wie viel wusste Pius XII. denn über den Holocaust?

Die Frage nach der Rolle des Papstes wird in der historischen Forschung seit Jahrzehnten heftig diskutiert. Die Archivöffnung 2020 hat bestätigt, dass Pius XII. früh über das systematische Morden im deutschen Machtgebiet informiert war, auch wenn judenfeindliche Parteiungen an der Kurie Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Quellen säten. Den häufig erhobenen Vorwurf, der Papst habe allein getauften Juden geholfen, sehen wir bisher nicht bestätigt.

Unser Ziel ist darüber hinaus ein Perspektivenwechsel: Weg von Pius XII., hin zu den komplexen Entscheidungswegen an der Kurie, in die zahlreiche Mitarbeiter eingebunden waren, und vor allem auch hin zu den Schicksalen der Verfolgten. Nur etwa ein Zehntel der Bittschreiben wurde letztlich Pius XII. persönlich vorgelegt, vor allem dann, wenn die Verfolgten in persönlicher Beziehung zu ihm standen, etwa ehemalige Klassenkameraden.

Bei dem Projekt arbeiten Sie mit dem Theologen Prof. Dr. Michael Seewald und dem Wirtschaftsinformatiker Prof. Dr. Jan vom Brocke zusammen. Wie wichtig ist diese Kooperation für dieses Projekt?

Die Zusammenarbeit ist außerordentlich wichtig. Beide Kooperationspartner bringen umfassende Kompetenzen ein, die für das Projekt unverzichtbar sind. Jan vom Brocke ist ein hochrenommierter Experte für den Einsatz von KI. Der Leibniz-Preisträger Michael Seewald kann als Dogmenhistoriker und systematischer Theologe unter anderem die Handlungsspielräume der Kurienmitarbeiter ausgezeichnet beurteilen. Der Austausch mit meinen Kollegen ist daher höchst gewinnbringend.

Mit 66 Jahren muss ich mir außerdem Gedanken machen, wie die Kontinuität in einem Vorhaben gesichert wird, das auf 25 Jahre angelegt ist. Dank der Kooperationspartner habe ich in dieser Hinsicht keine Sorgen.

Dr. Barbara Schüler freut sich, an den Quellen arbeiten zu können.
Dr. Barbara Schüler freut sich, an den Quellen arbeiten zu können.
© KTF | Jana Haack

Sie werden bei der Auswertung und Veröffentlichung dieses einmaligen historischen Quellenbestandes auf digitale Technik zurückgreifen. Dennoch gleicht die Aufgabe einer Sisyphos-Arbeit, oder?

Das Material zur Entscheidungsfindung in der Kurie beläuft sich auf mehr als 55.000 Blatt in zwölf Sprachen, überwiegend handschriftlich. Der Aufwand ist riesig, aber er ist auch gut kalkulierbar und im Rahmen des beantragten Projekts zu bewältigen. Einmal ediert, werden die Quellen dauerhaft für die Wissenschaft und die breite Öffentlichkeit nutzbar sein. Wir haben also, wie Sisyphos, einen schweren Brocken zu stemmen, aber es steht nicht zu befürchten, dass er uns entgleitet und das Vorhaben ohne dauerhaften Ertrag bleibt.

Inwiefern hilft Ihnen der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) bei diesem Projekt?

KI ist äußerst hilfreich, um riesige Datenmengen, wie sie das Projekt zu bewältigen hat, zu erfassen, sie nach Mustern zu durchsuchen und zu analysieren sowie die Ergebnisse darzustellen. Wie verliefen die Entscheidungswege an der Kurie, gab es graue Eminenzen in der zweiten Reihe? Welche Kriterien waren ausschlaggebend für den Erfolg einer Bitte? Lassen sich die Schicksale der Verfolgten sinnvoll verschiedenen Typen zuordnen? Welche sind besonders außergewöhnlich und überraschend? Die Liste der Fragen ist lang.

Lorena König und Christina Middendorf bei der Aufnahme einer Schachtel aus dem Nachlass des Jesuiten Pietro Tacchi Venturi.
Manchmal hilft es, Dokumente zu zweit zu betrachten. Die Promovierenden Lorena König und Christian Middendorf bei der Aufnahme einer Archivschachtel aus dem Nachlass des Jesuiten Pietro Tacchi Venturi.
© KTF | Jana Haack

Auch linguistische Analysen mithilfe von KI versprechen spannend zu werden. Angesichts der dynamischen Entwicklung der KI müssen wir zudem offen bleiben für weitere Möglichkeiten ihrer Nutzung. Der Einsatz von KI erfordert aber auch viel Fingerspitzengefühl. Übersetzungssoftware kann beispielsweise sehr hilfreich sein, die Schreiben international lesbar zu machen – sie ist aber immer noch nicht zuverlässig genug, um ihr blind zu vertrauen, wenn es um die Lebensgeschichten von Menschen geht. Kurz: KI ist sehr hilfreich, ersetzt aber nicht die Expertise eines interdisziplinären Teams.

Die Fragen stellte Dagmar Thiel