Geistliche Immunitäten in Münster
Sonderrechtsbezirke in der Stadt
Kirchen- und Klosterbereiche stellten in der vormodernen Stadt Immunitäten und damit „Orte eigenen Rechts“ dar. Der Begriff Immunität kennzeichnet allgemein die Freiheit von der Herrschaft anderer und den Schutz vor deren Eingriffen. Die Geistlichkeit beanspruchte seit dem Mittelalter die Befreiung von der weltlichen, d. h. in diesem Fall städtischen Herrschaft für sich. Diese Immunität bezog sich sowohl persönlich auf die Geistlichen selbst als auch räumlich auf die sakralen Gebäude und ihre unmittelbare Umgebung und umfasste die Befreiung von Abgaben, Steuern und Diensten sowie die Behauptung einer eigenen Gerichtsbarkeit.
Die Immunitätsbezirke waren meist durch eine Mauer von der städtischen Umgebung abgegrenzt, und innerhalb dieser Grenzen durfte der Stadtrat keine obrigkeitlichen Rechte wie die Verhaftung von Delinquenten oder die Erhebung von Steuern geltend machen. Innerhalb der Mauern lagen neben den Kirchen- und Klosteranlagen auch Wohn- und Wirtschaftsgebäude, in denen die Bediensteten des Klerus lebten und arbeiteten. Darüber hinaus nahmen auch Stadtbürger Wohnung auf einer Immunität, um von den Vorteilen dieser Sonderrechtsbezirke zu profitieren. Die Immunitäten beherbergten dadurch eine beachtliche Zahl an Gebäuden und Bewohnern. So lagen auf dem Immunitätsbezirk des Münsteraner Klosters St. Marien Überwasser nördlich der gleichnamigen Kirche der Dreiflügelbau des Klosters mit Kreuzgang, die Dechanei, die Paterei, die alte Dechanei, zwei Kaplaneihäuser, zwei Küsterhäuser, die Amtmannei, ein Backhaus, ein Waschhaus und fünf vermietete kleinere Häuser.
Kirchen, Stiftskapitel, Klöster und Ritterorden
Die Kirchen mit ihrer näheren Umgebung stellten wichtige Immunitätsbezirke dar. Die Stadt Münster besaß sechs Pfarrkirchen: Überwasser, Lamberti, Ludgeri, Martini, Aegidii und Servatii. Außerhalb der schützenden Stadtmauern lag zudem die Kirche St. Mauritz, deren Immunität durch einen Wall und einen Graben von ihrer Umwelt abgesetzt war. Die Immunitätsbezirke umfassten jeweils die Kirche selbst, den Kirchhof und die Wohngebäude der kirchlichen Amtsträger.
An einige der Kirchen waren sogenannte Stiftskapitel angegliedert: Neben dem Domstift St. Paulus waren dies das Kollegiatstift St. Mauritz, St. Ludgeri und St. Martini. Auf der Domimmunität gelegen, allerdings ohne eigene Kirche, befand sich das Kollegiatstift Alter Dom. An die Kirchen Überwasser und Aegidii waren dagegen Frauenklöster angegliedert, das Stift St. Marien Überwasser und St. Aegidii. Diese Stifte waren mit zum Teil erheblichem Grundbesitz in und außerhalb der Stadt ausgestattet und ihre Mitglieder entstammten vor allem dem Landadel sowie dem Stadtpatriziat und dem gehobenen Bürgertum. Im Unterschied zu Ordensgeistlichen handelte es sich bei den Kanonikern der Kollegiatstifte um Weltkleriker, für die keine strengen Ordensregeln oder lebenslang bindende Gelübde galten. Dennoch beanspruchten sie die geistlichen Freiheiten und Privilegien für sich.
Darüber hinaus wurde das Stadtbild ganz besonders von der großen Anzahl an Kloster- und Ordensgemeinschaften geprägt, die sich im Laufe der Zeit in der Stadt niederließen. Obwohl die Klöster durch eine Mauer von ihrer Umwelt abgegrenzt waren, standen die Bewohner der Immunitäten mit der Stadtgesellschaft in regem Austausch. Enge Verbindungen bestanden zum Beispiel zwischen dem Kloster der Franziskaner-Minoriten und den städtischen Gilden und Zünften. Diese nutzten das Kloster zu Beginn der 1550er Jahre als Versammlungsort, als ihnen nach dem Ende der Täuferherrschaft zeitweise die politische Mitbestimmung verboten war. Insbesondere die Niederlassungen der Bettelorden übernahmen karitative und seelsorgerischere Aufgaben in den Armenhäusern und Hospitälern sowie in vielen Pfarrkirchen das Predigtamt. Die Jesuiten gründeten trotz heftigen Widerstandes von Rat und Gilden 1588 ein Kolleg, welches sich in kürzester Zeit großer Beliebtheit unter den Familien des gehobenen Bürgertums erfreute. Über die Kirchen und Klöster hinaus beherbergte Münster auch die Niederlassungen des Ritterordens der Johanniter und des Deutschen Ordens, die ebenfalls eigene Rechtsbezirke darstellten.
Konflikte zwischen Stadt und Geistlichkeit
Insgesamt war der Stadtraum also durchlöchert von zahlreichen geistlichen Immunitäten. Die damit verbundene rechtliche Sonderstellung gab vor allem in Bezug auf drei Aspekte häufig Anlass zu Konflikten.
Erstens behinderte sowohl die örtlich gebundene als auch die persönliche Befreiung von der weltlichen Gerichtsbarkeit die städtische Rechtspflege: Das Kirchenasyl war eine besonders bedeutende und umstrittene Aushebelung der städtischen Strafverfolgung. Zwar gewährte das kanonische Recht in bestimmten Fällen kein Asyl, so zum Beispiel bei Raubmord, Betrug und Majestätsverbrechen, doch die Rettung hinter Kirchen- und Klostermauern war eine Möglichkeit, sich vorübergehend der weltlichen Justiz zu entziehen. In vielen Fällen missachteten die städtischen Gerichtsdiener jedoch diesen Schutz, drangen in die Immunitäten ein und führten die Angeklagten ab. Dies geschah allerdings stets unter großem Protest der geistlichen Immunitätsbewohner. Auch die ungestraften Vergehen des Klerus setzten den Magistrat als Hüter von Recht und Ordnung unter Druck. 1558 handelten Rat und Geistlichkeit für Münster einen Vertrag aus, der es dem Magistrat erlaubte, geistliche Straftäter aufzugreifen und festzusetzen. Zur Bestrafung mussten diese jedoch dem Bischof übergeben werden.
Zweitens blieb die Abgaben- und Steuerfreiheit vor allem in Krisenzeiten, wie beispielsweise zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, nicht unangefochten. Die Gewerbe, die zum Teil auf den Immunitäten betrieben wurden und dadurch der städtischen Kontrolle entzogen waren, führten ebenfalls zu Auseinandersetzungen. In den 1600er Jahren kam es mit den Jesuiten zu einem langwierigen Konflikt um die Zahlung der Weinsteuer. Nachdem der Rat zunächst beschlossen hatte, die Weinsteuer zu erlassen, musste er auf Druck der Gilden die Steuererleichterung zurücknehmen. Die Jesuiten ignorierten diesen Widerruf jedoch und erhoben den Anspruch, grundsätzlich von allen Steuern befreit zu sein. Der Kaiser intervenierte und mahnte den Rat, dem Orden die Steuer zu erlassen. Der Rat folgte in einem neuerlichen Beschluss der Intervention des Kaisers, musste aber auf erneutes Drängen der Gilden die Zusage zurücknehmen. Ein Kompromiss aus dem Jahr 1609 gewährte schließlich die Steuererleichterung, hielt dies aber ausdrücklich als Ausnahmeregelung fest.
Drittens führte der Erwerb von geistlichem Grundbesitz innerhalb der Stadt aufgrund des ohnehin knappen Wohnraums zu Konflikten. Da die Häuser im Besitz der Kirche nicht zu den Steuern, Abgaben und Schatzungen herangezogen werden konnten, wirkte sich der Übergang in die „tote Hand“ negativ auf die Stadtfinanzen aus. Der Magistrat versuchte daher, den Verkauf, die Schenkung und Vererbung von Grundstücken an geistliche Institutionen zu untersagen.
Vor dem Hintergrund der bereits genannten Konfliktpunkte bemühte sich der Rat, die Ansiedlung neuer Ordensgemeinschaften zu verhindern. Gerade zu Beginn des 17. Jahrhunderts und im Zuge der gegenreformatorischen Bemühungen der Fürstbischöfe Ernst und Ferdinand von Bayern kamen mehrere neue geistliche Gemeinschaften nach Münster, so zum Beispiel die Dominikaner und Franziskaner-Observanten. Als auch noch die Augustiner-Chorfrauen eine Konventsgründung innerhalb der Stadtmauern anstrebten, wehrte sich der Rat vehement. Dank der Fürsprache einiger katholischer Gesandter des Westfälischen Friedenskongresses und eines urkundlich gegebenen Versprechens des Fürstbischofs, keiner weiteren geistlichen Gemeinschaft die Erlaubnis zur Niederlassung in der Stadt zu erteilen, gestand der Rat den Ordensschwestern die Gründung eines Konvents zu.
Die mit den Ordensgründungen bezeugten Bemühungen der Fürstbischöfe zur Rekatholisierung des Stifts und der Stadt zeigten sich auch an den Maßnahmen zur Unterbindung protestantischer Glaubenspraxis. Vor allem der Ausschluss protestantischer Bürgerinnen und Bürger vom kirchlichen Begräbnis führte zu heftigen Auseinandersetzungen. Nachdem sich 1587 ein entsprechender Konflikt ergeben hatte, häuften sich seit den 1590er Jahren die Fälle, in denen der Klerus verbot, Protestanten auf den Kirchhöfen zu bestatten, während der Rat und die Gilden auf dem Recht der Stadt bestanden, die Toten zu begraben. Zwar entwickelte sich die Auseinandersetzung zu einem Grundsatzstreit zwischen dem Rat und den landesherrlichen Behörden, letztendlich kam es aber zu keiner Entscheidung. Stattdessen wurden die Einzelfälle situativ gelöst. Dieser Umgang mit Konflikten kann als typisch angesehen werden für die Koexistenz von Immunitäten und Stadtgesellschaft im städtischen Raum mit ihrem erheblichen Konfliktpotenzial.
Die Aufhebung der Stifte, Ordensgemeinschaften und Klöster erfolgte mehrheitlich durch das französische Aufhebungsdekret vom 14. November 1811. Zwar kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederum zu etlichen Neugründungen. Der sich herausbildende moderne Staat wandte sich jedoch erfolgreich gegen die als autonom verstandenen rechtlichen Positionen dieser intermediären Gewalten. Kirchen- und Klosterbezirke verloren ihren Status als Immunitäten und sind daher heute keine „Orte des Rechts“ im vormodernen Sinne mehr.
Vera Teske
Zum Weiterlesen
Ronnie Po-chia Hsia: Gesellschaft und Religion in Münster 1535-1618, Münster 1989.
Anna Krabbe: Inseln in der evangelischen Stadt? Religiöse Gemeinschaften in Herford und Soest 1520-1609, Münster 2021.
Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung, hrsg. von Karl Hengst, Teil 2: Münster – Zwillbrock (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLIV, Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte, Band 2, Teil 2), Münster 1994.