Arbeitsgruppen aus dem Fachbereich Chemie

  • Arbeitsgruppe Heuer

    Energielandschaften: ein Schlüssel zum Verständnis komplexer Systeme

    Heuer

    Das Verständnis komplexer Systeme, angefangen von Biopolymeren über molekulare Flüssigkeiten bis hin zu dichten kolloidalen Systemen ist ein zentrales wissenschaftliches Thema in den Naturwissenschaften. Die Komplexität resultiert von den vielen konkurrierenden Wechselwirkungen, die eine einfache Beschreibung unmöglich machen. Je nach Arbeitsrichtung hat der Begriff „Verständnis“ eine andere Bedeutung. Biologen möchten zum Beispiel bei Proteinen die Beziehung zwischen Sequenz und Struktur erfassen. Bei Chemikern könnte die Frage im Vordergrund stehen, wie sich durch Variation der molekularen Struktur in glasbildenden Flüssigkeiten die Glasübergangstemperatur variieren lässt. Physiker schließlich könnten sich der Frage widmen, wie sich die Dichte der Kolloide auf deren Dynamik auswirkt.
    All diese Fragen lassen sich in einem gemeinsamen theoretischen Rahmen beschreiben – das der Energielandschaft. Die Eigenschaften eines Atoms mit zwei stabilen Positionen lassen sich zum Beispiel durch ein Doppelmuldenpotential beschreiben. Damit wird die Abhängigkeit der Energie von dem eindimensionalen Freiheitsgrad erfasst. Für eine Flüssigkeit mit N atomaren Teilchen hingegen hängt die potentielle Energie von 3N Freiheitsgraden ab. Die visuelle Darstellung wird dadurch enorm verkompliziert, da das zugrunde liegende Koordinatensystem nun nicht mehr eindimensional sondern 3N-dimensional ist.
    In dieser temperaturunabhängigen Energielandschaft sind all die Eigenschaften der komplexen Systeme kodiert. So entspricht zum Beispiel der native Zustand eines Biopolymers dem globalen Minimum der potentiellen Energielandschaft. Bei der Frage der Glasübergangstemperatur spielt es insbesondere eine wichtige Rolle, ob typische Konfigurationen bei einer Temperatur T durch hohe Barrieren um die aktuelle Konfiguration an der Dynamik gehindert werden. Dann könnte nämlich auf der experimentellen Zeitskala die Flüssigkeit fest erscheinen – man würde dann von einem Glas sprechen.
    Bei der Imagination einer 3N-dimensionalen Landschaft entstehen sofort Knoten im Gehirn. Wie kann man sich diesem komplizierten Gebilde überhaupt nähern? Man kann die Energiefunktion zum Beispiel aus Sicht eines Hochgebirgs-Wanderers sehen. Für ihn sind insbesondere Täler und Sattel von Interesse. Die Sattel sind wichtig, um mit möglichst wenig Aufwand von einem Tal zum anderen Tal zu gelangen. Aus mathematischer Sicht sind Täler bzw. Minima und Sattel mit stationären Punkten der Energielandschaft verbunden. Im Vergleich zum Wanderer kommt bei einem physikalischen System bei tiefen Temperaturen noch hinzu, dass es sich gerne in der Nähe von lokalen Minima der Energielandschaft aufhält. Somit ist der erste Abstraktionsschritt gelungen: bei hinreichend tiefen Temperaturen bestimmen die stationären Punkte der Energielandschaft – und hier vor allen Dingen Minima und Sattel erster Ordnung – sowie deren Topographie die Eigenschaften des Systems.
    Damit ist der Brückenschlag zur tatsächlichen Forschung gelungen. Mittels optimierter Algorithmen zur Bestimmung der Minima und deren räumlicher Korrelation können die Eigenschaften der Energielandschaften mit großer Genauigkeit bestimmt werden. Natürlich ist es nicht möglich, die exponentiell vielen Minima tatsächlich alle zu bestimmen. Bei Biopolymeren ist es oft ausreichend, die Umgebung des globalen Minimums und den Entweichpfad aus diesem Bereich des Konfigurationsraums genauer zu charakterisieren. Bei glasbildenden Flüssigkeiten lassen sich geeignete Größen finden, die zumindest die statistischen Eigenschaften der Topographie der Minima erfassen. So können zum Beispiel typische effektive Barrieren bestimmt werden, die nötig sind, um ein typisches Minimum einer gewissen Energie E zu verlassen. Weiterhin ist es möglich, die Anzahl der Minima mit Energie E zu bestimmen, ohne sie wirklich abzuzählen. So kann man berechnen, dass eine Silikatschmelze, die aus nur 99 Atomen besteht (mit sogenannten periodischen Randbedingungen) ca. 1050 Minima aufweist. Aus der Energieverteilung kann man dann schließlich thermodynamische Größen bestimmen, zusammen mit der dynamischen Information (z.B. mittels der effektiven Barrieren) dann auch Observablen wie Viskositäten oder Diffusionskonstanten.
    Gerade bei Biosystemen lassen sich die relevanten dynamischen Prozesse mittels weniger relevanter Reaktionskoordinaten beschreiben. Häufig wird zum Beispiel der Gyrationsradius oder die Anzahl der nativen Kontakte gewählt. Man kann sich nun die gesamte potentielle Energielandschaft auf diese wenigen (oft zwei zur besseren visuellen Veranschaulichung) Reaktionskoordinaten projiziert denken. Aus der potentiellen wird dann die freie Energielandschaft. Diese effektive und zudem temperaturabhängige Energielandschaft erlaubt dann im günstigen Fall Aussagen über Faltungspfade oder relevante Barrieren zu treffen.

    Als Beispiel soll die freie Energielandschaft eines Cytosin-reichen DNA-Strangs dienen. Bei niedrigem pH-Wert faltet sich das System in eine kompakte Struktur, in der durch zusätzliche Wasserstoffbrücken sich vier parallele Stränge gebildet haben. Bei hohem pH-Wert hingegen entfaltet sich der Strang. Zusammen mit dem experimentellen Arbeitskreis von Prof. Liu an der Tsinghua Universität in Peking konnten wir die freie Enegielandschaft bei hohem pH-Wert charakterisieren. Als Reaktionskoordinaten haben wir die beiden Richtungen im hochdimensionalen Konfigurationsraum gewählt, entlang derer sich das gesamte System am weitesten bewegt. Man sieht deutlich die Instabilität des sogenannten i-Motivs (Struktur unten rechts) und den thermodynamisch stabilen Zustand der sogenannten Haarnadelstruktur (Struktur oben rechts).

    Die Bestimmung der freien Energielandschaft eines gegebenen Systems wirft viele spannende Fragen auf, die Gegenstand aktueller Untersuchungen sind. Wie bestimmt man optimale Reaktionskoordinaten, insbesondere bei bislang nicht charakterisierten Systemen? Wie viele Reaktionskoordinaten sind nötig? Führen die nicht berücksichtigten Freiheitsgrade zu einfachen Fluktuationen? Oder in physikalischer Ausdrucksweise: verhält sich die Dynamik auf der freien Energielandschaft wie ein Markov-Prozess? Sind die Barrieren in der gewählten Darstellung die wahren Barrieren? Wie sehen Drift- und Diffusionskonstanten auf der freien Energielandschaft aus? Es bleibt viel zu tun.

  • Arbeitsgruppe Schönhoff

    Thema der Arbeitsgruppe Schönhoff
    (zum Unterthema 4. Emergenz in nanoskaligen Systemen und weicher Materie)

    Im Arbeitsgebiet „Polymere und Kolloide“ erfolgt die Forschung in der Arbeitsgruppe Schönhoff an organischen Strukturen, die auf der Nano- und Mikroskala durch Selbstorganisation gebildet werden. Schwerpunkt ist die Untersuchung von Dynamik und Transport von kleinen Molekülen und Ionen in solchen Strukturen. Es werden einerseits dynamische NMR-Methoden wie Feldgradientendiffusion (PFG-NMR) und Spinrelaxation, andererseits auch Dünnschichtcharakterisierungsmethoden wie Ellipsometrie, Quarzkristall¬mikro¬waage (QCM-D) und ATR-IR eingesetzt, um ultradünne Polymerfilme, komplexe Fluide und kolloidale Partikel zu untersuchen.

    1. Polyelektrolyt-Multischichten (PEM)
    Durch Layer-by-Layer Self-Assembly gebildete Multischichten aus Poly¬elektro¬lyten (PEM) können sowohl auf planaren Oberflächen als auch auf kolloidalen Partikeln hergestellt werden. Wie Abb. 1 verdeutlicht, erfolgt der Aufbau durch alternierende Adsorption von Polykationen und Polyanionen aus wässrigen Lösungen. Dieser Prozeß führt zu nanoskaligen Nichtgleich¬gewichts¬komplexen, die durch die Kinetik des Aufbauprozesses kontrolliert werden.

    Abb. 1: Alternierende Adsorption von Polykationen (rot) und Polyanionen (blau) aus wäßrigen Lösungen zum Aufbau nanoskaliger Multischichten.

    Untersuchungen planarer Schichten konzentrieren sich auf Fragestellungen zu Schichtaufbau, Quellverhalten und interner Dissoziation.
    Die Einführung dynamischer NMR-Methoden zur Untersuchung von PEM wurde durch die Beschichtung kolloidaler Partikel als Substrate ermöglicht. Hydratation und Porösität von PEM konnten dadurch näher charakterisiert werden: So wurde z.B. durch Spinrelaxation eine oberflächen¬potential¬kontrollierte Dynamik des Hydrat¬wassers in PEM nachgewiesen. Weiterhin konnte durch NMR- Kryoporometrie erstmals eine Porengrößenverteilung in PEM ermittelt werden.

    2. Gastmoleküle in kolloidalen Trägersystemen
    Eine Weiterentwicklung von PEM stellen Dispersionen polymerer Hohlkapseln dar, die zur Enkapsulierung von Wirkstoffen („Drug Delivery“) angewandt werden können. In diesen und anderen kolloidalen Trägersystemen werden Verteilungsgleichgewichte und die Austauschdynamik von Gastmolekülen durch PFG-NMR untersucht.
    An¬hand des Diffu¬sions¬¬koeffizien¬ten eines Sonden¬mole¬küls kann seine Lokali¬sation in der Dispersion („gebunden“ oder „frei“) analysiert werden, siehe Abbildung. Durch Variation der Diffusionszeit und Analyse in einem „Two-site“- Modell werden Aus¬tausch¬rate und Verteilungs¬koeffizient quantifiziert. Untersucht wurden mit dieser Methodik mizellare Systeme, polymere Hohlkapseln sowie thermo¬reversible Polymere. Zum Beispiel konnte an Duftstoffen der Einfluß der Hydrophobizität und der molekularen Struktur auf den Einbau in Mizellen aufgeklärt werden. In eine grundlegende Frage der Polymerphysik führt die Molekulargewichts¬abhängigkeit der Penetration einer Kette durch eine Nanopore: Es wurde erstmals ein experi¬mentelles Skalengesetz bestimmt; dieses zeigt verschiedene Penetrationsmechanismen für kurze bzw. lange Ketten auf.


    Abb. 2: Links: Verschiedene kolloidale Trägersysteme a: Tensidmizellen, b,c: Polyelektrolythohlkapseln. Rechts: Untersuchung der Lokalisation von Gastmolekülen im Inneren, in der Wand bzw. außerhalb des Partikels mit Hilfe der aus der Steigung der Kurven extrahierbaren Diffusionskoeffizienten.


    3. Polymere Elektrolyte
    Die Optimierung polymerer Elektrolyte für Li-Batterieanwendungen erfordert ein Verständnis von Ladungstransportprozessen auf molekularer Ebene. Die Anforderungen an Elektrolymaterialien bestehen in hoher ionischer Leitfähigkeit, hoher mechanischer Stabilität sowie Möglichkeiten zur Dünnschichtherstellung. Unsere Aktivitäten in diesem Bereich bestehen aus Untersuchungen der Mechanismen des Ladungstransportes in Salz-in-Polymer-Systemen auf der Basis von Oligo¬ether-substituierten flexiblen Ketten. Multinukleare NMR-Studien (1H, 7Li, 19F) liefern aus Diffusionskoeffizienten und Relaxationsraten ein umfassendes Bild der Dynamik von Kationen, Anionen sowie Ketten, das von der lokalen intramolekularen bis zur mikroskopischen Längenskala reicht und so zur Aufklärung der Ionentransportprozesse und zur Matrialoptimierung beiträgt.
    Andererseits werden auch PEM hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit als polymere Elektrolyte untersucht. Gehalt und Dynamik niedermolekularer Ionen stehen dabei im Mittelpunkt, wobei die Ladungsträgerdichte durch gezielte Manipulation (pH, Elektrolytzugabe) der extrinsischen Ladungskompensation durch Gegenionen optimiert wird. Flankiert werden diese Arbeiten durch Untersuchungen von Polyelektrolytkomplexen (PEC), dem korrespondierenden Volumenmaterial, in dem die Stöchiometrie der Polyionen kontrolliert werden kann, was der systematischen Untersuchung der Gegenionenbindung und damit dem Verständnis der Ladungstransportprozesse dient.