Jan Janssen (r.) mit dem philippinischen Seemann Francis – ein Bild aus der Zeit vor der Pandemie.
Jan Janssen (r.) mit dem philippinischen Seemann Francis – ein Bild aus der Zeit vor der Pandemie.
© Seemannsmission Rotterdam

„Die Seeleute arbeiten für uns alle“

WWU-Alumnus Jan Janssen erlebt als Seemannspastor in Rotterdam die Schattenseiten der Globalisierung

Das Interview führte Nora Kluck.

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Dieser Text stammt aus dem alumni|förderer-Magazin in der Universitätszeitung "wissen|leben", Ausgabe Wintersemester 2020/2021.

Jan Janssen ist seit 2018 Seemannspastor der Deutschen Seemannsmission in Rotterdam. Er studierte von 1984 bis 1987 Evangelische Theologie an der WWU Münster und wechselte danach an die Universitäten Bern und Göttingen. Im Jahr 1994 wurde er ordiniert und hatte bis 1996 die Pfarrstelle der Kirchengemeinde in Wiefelstede inne. Von 1996 bis 1997 arbeitete er als Abteilungsleiter beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Leipzig. Von dort wechselte er an die Christuskirche in Wilhelmshaven, wo er auch für die ‚Kirche am Meer‘ der EXPO 2000 verantwortlich war. 2002 wurde er Pastor des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Von 2008 bis 2017 war er Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg. Bei seiner Wahl war er der jüngste Bischof der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Als Bischof war er Beauftragter des Rates der EKD für evangelische Freiwilligendienste (2011–2015) sowie Vorsitzender des Vorstandes des Evangelischen Literaturportals e. V. (2011–2017). Von 2010 bis 2018 war er Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Missionswerks, das die ökumenische Zusammenarbeit mit Christen und Kirchen in Übersee zur Aufgabe hat.

Was muss man sich unter der Deutschen Seemannsmission vorstellen?

Das Schicksal der Seeleute kam mit der Industrialisierung und der Erfindung der Diakonie ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr in den Blick der Kirchen. Damals gründeten sich Vereine zur Unterstützung und für diakonische und seelsorgerliche Hilfestellung zugunsten von Seeleuten. Daraus entstand die Deutsche Seemannsmission. Sie ist eine Einrichtung der Evangelischen Kirche, von Kirchensteuern und Spenden finanziert, und engagiert sich in über 30 Häfen weltweit sowie an den deutschen Küsten. Heute arbeitet sie ökumenisch mit anderen Kirchen und internationalen Partnern eng zusammen. Ihr moderner Missionsbegriff füllt sich mit einer markanten Frage Jesu an sein Gegenüber im Markusevangelium: ‚Was willst Du, dass ich für Dich tun soll?‘

Was sind Ihre Aufgaben als Seemannspastor?

Mit dieser Haltung, die nach dem Wohlergehen des Anderen fragt, machen wir Besuche an Bord der Schiffe aus Übersee, die in den Häfen anlegen. Mit zwei Freiwilligen im Internationalen Jugendfreiwilligendienst arbeite ich in einem ökumenischen Netzwerk mit Kolleginnen und Kollegen aus den Niederlanden, aus Großbritannien und Skandinavien. Unsere Arbeit wird ehrenamtlich unterstützt von einem kleinen Verein unter dem Dach der Deutschen Evangelischen Gemeinde Rotterdam. In Rotterdam, dem größten Hafen Europas, legen jährlich fast 30.000 Seeschiffe an. Wir kommen auf Anfrage der Seeleute ohne Rücksicht auf Herkunft oder Religion. Und wir gehen dorthin, wo wir damit rechnen, auch deutschen Seeleuten zu begegnen, die sich über einen muttersprachlichen Austausch freuen…

… und bieten auch praktische Hilfe an?

Genau. Aber im Hafen sind wir zunächst diejenigen, die danach fragen, wie es persönlich geht – im Gegensatz zu den Kontrollen, den Inspektionen oder dem Zoll. Als Kommunikationshilfen bieten wir SIM-Karten fürs Telefon und Internet an, Zeitungen in der Muttersprache, und wir helfen bei Besorgungen zum Beispiel aus Drogerie und Apotheke. Denn vielfach ist den Seeleuten ein Landgang raus aus den riesigen Industriegeländen nicht mehr möglich. In einigen Häfen bietet die Deutsche Seemannsmission auch Unterkünfte wie Seemannsheime oder Freizeiträume wie Seemannsclubs. Dadurch, dass sich der Hafen in Rotterdam über 42 Kilometer Länge erstreckt, sind die Wege dafür leider zu weit. Darum sind wir zu den Seeleuten unterwegs.

Warum ist diese Arbeit wichtig?

Seeleute leben bei ihrer Arbeit in großer Isolation. Sie begegnen außerhalb der Crew aus aller Herren Länder wenigen Menschen und sind froh über eine kleine Abwechslung oder Hilfestellung. Die Seeleute arbeiten auf den Schiffen für uns alle, und das unter schwierigen Bedingungen. Rund 90 Prozent der Güter und Waren, die wir erwerben, mit denen wir uns umgeben, die wir besitzen und nutzen, kommen aus Übersee zu uns. In der Produktion machen wir uns inzwischen viele Gedanken zum Thema des fairen Handels – aber an den Transportweg denken wir dabei nicht. Seeleute gehören in den globalisierten Wirtschaftsprozessen zu den am meisten übersehenen Menschen. Dabei muss ihnen an Bord ein geradezu beispielhaftes Miteinander gelingen, denn sonst würden Logistik und Lieferketten nicht funktionieren. Und nirgendwo anders habe ich nach einem Gespräch so oft die kleine Bitte gehört: „Pray for me!“

Was mögen Sie besonders an Ihrem Beruf?

Die Begegnung mit Menschen, von denen ich beim Weg auf dem Kai oder über die Gangway noch nichts ahne, überrascht mich immer neu. Ich habe großen Respekt vor der hohen Leistung und Verantwortung der Seeleute. Eine kurze Praktikums-Mitfahrt von Rotterdam über London nach Hamburg hat mich davon endgültig überzeugt. Bewegen Sie mal mehr als 10.000 Container übers Wasser! Dazu macht mir das Zusammenbringen verschiedener Welten Freude – jedes Jahr in den Lernprozessen der jungen Freiwilligen, aber auch bei Gottesdiensten und Veranstaltungen, in denen wir versuchen, auf die Lage der Seeleute aufmerksam zu machen. Und natürlich begeistern mich das Leben und die Arbeit an der Küste.

Im Jahr 2017 haben Sie Ihr Bischofsamt in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg überraschend aufgegeben, also ein Amt auf Lebenszeit. Was hat Sie dazu bewogen?

Da ich mit 45 Jahren sehr jung in das Amt gewählt wurde, zeichnete sich ab, dass die Zeit begrenzt sein sollte. Es tut den Aufgaben – nicht nur in einer Leitungsposition – gut, wenn eine Vielfalt von Gaben zum Einsatz kommt, die nicht eine Person allein über mehr als 20 Jahre abdecken kann. Vom fruchtbaren Miteinander verschiedener Professionen und wechselnder Positionen war ich zuvor schon in meiner Zeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag geprägt. Außerdem bleibe ich Pastor, das ist ja in jedem Dienst durchgehend mein Beruf gewesen.

Warum sind Sie danach ausgerechnet nach Rotterdam gegangen?

Als ich mich bewarb, erwachte meine Nähe zu den Niederlanden neu. Die hat mich schon früh geprägt, zum Beispiel durch einen Jugendaustausch und bei vielen Radtouren. Ich mag die Sprache sehr, finde die Geschichte und Kultur bewegend, gerade im Miteinander mit den deutschen Nachbarn. Zum anderen bin ich in Friesland ‚hinterm Deich‘ aufgewachsen und habe einige Jahre als Pastor im Kontext von Hafen und ‚Kirche am Meer‘ gearbeitet, was mir schon damals große Freude machte. Und da lockte einfach dieser unglaubliche Hafen …

Hat sich auch Ihre Arbeit in der Corona-Krise verändert?

Im Hafen steht Sicherheit schon immer ganz oben auf der Tagesordnung. Die Sorge aber, dass eine Crew zum ‚Spreader‘, also zum Viren-Verteiler, wird, ist groß. Jede persönliche Begegnung muss in der Pandemie mit mehr Distanz vonstattengehen – wie in vielen anderen Arbeitsfeldern auch. Andererseits gibt es eine gewisse Übung, kulturelle Distanzen mit einem wunderbaren Sprachenmix anzugehen. Wir sind froh, dass wir an vielen Stellen immer noch helfen können.

Schauen wir zurück zum Studium nach Münster: Was war Ihre prägendste Studienerfahrung in Münster?

1984 waren wir sehr viele Studierende – das war sehr prägend. Unser Hebräisch-Kurs im ersten Semester war beispielsweise jeden Tag für 7:15 Uhr angesetzt, damit nur die kommen, die es ernst meinen, wie es damals hieß. Tatsächlich saßen wir mit über 100 Leuten im Hörsaal und sollten eine Sprache lernen. Die Professoren in Münster waren buchstäblich weit weg. Da ist mir anschließend die kleinere Universität in Bern besser bekommen. Doch ich habe schöne Erinnerungen an Münster. Gerne denke ich an die Studentenkantorei, bei deren Leiter Prof. Dr. Martin Blindow ich für ein Jahr auch einen Job als studentische Hilfskraft hatte. Konzertplakate und -programme, Konzertkassen und –organisation: Da habe ich viel gelernt und – noch ohne Computer! – viele Stunden in münsterschen Copy-Shops verbracht.

Was würden Sie heutigen Studierenden mitgeben wollen, die das Pfarramt anstreben?

Wichtig wäre mir die ökumenische Begegnung. Ein Theologiestudium darf in dieser globalisierten Welt konfessionell nicht eindimensional sein. Gute Erfahrungen habe ich mit selbst organisierten Lektüregruppen und -seminaren gemacht, die keinen ‚Schein‘ brachten, mir im Gespräch aber so manches Aha-Erlebnis ermöglichten und Zeit zum Verstehen gaben. Fruchtbar finde ich nach wie vor die Begegnung der Bibel mit der Literatur in Poesie und Prosa – da schlägt bis heute mein Herz.

Containerschiff
In Rotterdam werden jährlich etwa 9 Millionen Container umgeschlagen.
© Seemannsmission Rotterdam

Der Hafen Rotterdam

Der Hafen Rotterdam ist der größte Hafen Europas. 2019 legten dort fast 30.000 Seeschiffe und 86.000 Binnenschiffe an. Knapp 470 Millionen Tonnen Waren wurden umgeschlagen, darunter 104 Millionen Tonnen Rohöl, 30 Millionen Tonnen Eisenerz und Schrott sowie 22 Millionen Tonnen Kohle. Der Hafen hat eine Gesamtlänge von 42 Kilometern und eine Gesamtfläche von über 125 Quadratkilometern, davon zwei Drittel auf dem Land. Auf dem Gelände befinden sich Containerterminals, Stückgutterminals, Terminals für trockenes Massengut (wie Kohle und Eisenerz), Tanklager, Ölraffinieren, Kraftwerke, Chemiewerke und weitere Industrieanlagen.