Hauptseminar: Tragische Entscheidungen – Allokation und Rationierung von knappen Gütern in Zwangslagen. Ethische Grundlagen und aktuelle Probleme (WS 2006/07)

ergänzende Informationen und Materialien

Veranstaltungsnummer:
021564
Zeit:
Mi 18-20 Uhr
Ort:
Hü 1.50
Beginn:
25.10.2006
Ende:
07.02.2007
Wenn in Zwangslagen knappe wertvolle Güter verteilt werden müssen, kommt es zu ethischen Konflikten, die nicht selten tragische Entscheidungen erfordern: Mehrere Handlungsoptionen können mit guten Gründen legitimiert werden. Es sind Vorzugsurteile zu fällen, die Menschen privilegieren, andere Menschen diskriminieren: Wer soll am Unfallort behandelt werden, wenn die Kapazitäten nicht für alle ausreichen? Wer bekommt im Pandemiefall die Grippeimpfung oder das Medikament? Wer bekommt zuerst ein Transplantatorgan, wenn nur wenige Organe zu Verfüfung stehen, viele aber auf eines warten? Welche Leistungen werden aus dem Katalog der Krankenkassen gestrichen, wenn die Mittel fehlen, alle Leistungen für alle zur Verfügung zu stellen? Die aktuelle ethische Debatte prüft Kriterien und Regeln für solche tragischen Entscheidungen auf ihre Legitimität: Soll man die Würde jedes einzelnen Menschen auch in Extremsituationen wirklich um jeden Preis zum ausschlaggebenden Kriterium machen? Oder kann man über Personengrenzen hinweg aggregierte Vorteile (eine ‚Nutzensumme‘) als Kriterium anerkennen? Darf man den größt möglichen Nutzen der größt möglichen Zahl der Betroffenen anstreben? Oder hat ein Einzelner auch einen Anspruch zu überleben, wenn dafür mehrere andere Menschen sterben müssen? Zählt die Zahl geretteter Menschenleben eigentlich? Ist der Markt die geeignete Institution der Allokation? Oder eine Lotterie? Oder sollte man die Zuteilung durch hypothetische, im Vorhinein getroffene Vereinbarungen legitimieren, denen alle Betroffenen zustimmen können müssen? Letztlich laufen diese Fragestellungen auf die ethische Grundlagendebatte über das Verhältnis von Effizienz und Gleichheit hinaus: Einerseits gibt es gute ethische Gründe, knappe Güter so zu verwenden, dass sie einen großen Nutzen hervorbringen – alles andere wäre Verschwendung. Andererseits gibt es gute ethische Gründe für das Prinzip der Gleichbehandlung – alles andere wäre ein Verstoß gegen den Grundsatz der Menschenwürde. Es gibt also auf der einen Seite starke Gründe, nicht Einzelne für eine höhere Nutzensumme zu opfern; und auf der anderen Seite gibt es starke Gründe, nicht um der Gleichheit willen mehrere Menschen für das Überleben eines Einzelnen zu opfern. Während die konstruierten Beispiele der allokationsethischen Debatte (‚Wer von drei Schiffbrüchigen – ein junger Kräftiger, ein alter Schwacher und einer, der sich mit Navigation auskennt – darf im Rettungsboot bleiben, wenn nur für zwei Platz ist?‘) noch einen gewissen makabren Unterhaltungswert haben, können Rationierungsentscheidungen im Gesundheitswesen uns alle betreffen.

Begleittexte

Basistext

Einführende Literatur

  • Weyma Lübbe, Tödliche Entscheidung. Allokation von Leben und Tod in Zwangslagen, Paderborn: mentis 2003.
  • Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, Stuttgart: Reclam 1995.
  • Volker H. Schmidt, Politik der Organverteilung. Eine Untersuchung über Empfängerauswahl in der Transplantationsmedizin, Baden-Baden: Nomos 1996.
  • Weyma Lübbe, Wirtschaftlichkeit und Gerechtigkeit: zwei ethische Gebote? Eine Grundlagenreflexion, in: Gesundheitswesen 67 (2005) 325-331.
  • Thomas Gutmann/Volker H. Schmidt (Hg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, Weilerswist: Velbrück 2002, 91-109.
  • Arno Anzenbacher, Einführung in die Ethik, 3. Aufl., Düsseldorf: Patmos 2003.
  • Dieter Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, Berlin/New York: de Gruyter 2003.