27./31. Januar 2012

Methoden der Kulturwissenschaften

Auf welche Methoden stützen sich die Kulturwissenschaften und welche Ziele verfolgen sie? Sprechen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich im engen oder weiten Sinne mit Kultur beschäftigen, überhaupt dieselbe Sprache oder zeichnen sich die einzelnen Fachgebiete durch grundsätzlich verschiedene Begrifflichkeiten und Theoriegebäude aus? Diese Fragen standen im Mittelpunkt eines interdisziplinären Workshops, den das Zentrum für Wissenschaftstheorie (ZfW) am 27. und 31. Januar 2012 ausrichtete. Acht Professorinnen und Professoren der WWU stellten in kurzen, anregenden Vorträgen Überlegungen zu den genannten Fragen vor. Die Beiträge reichten von der Beschreibung historischer und aktueller Entwicklungen des Fachs über die Vorstellung aktueller Forschungsfragen bis hin zu kritischen Kommentaren zu methodologischen Strömungen.

Liebsch
Dr. Dimitri Liebsch (ZfW), der Organisator des Workshops
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Prof. Dr. Oliver R. Scholz (Philosophisches Seminar)

Als erster Vortragender stellte Oliver R. Scholz (Philosophie) die Grundzüge einer allgemeinen Theorie der Hermeneutik und der Interpretation vor. Mit Textinterpretationen verfolgen wir laut Scholz ein kognitives Ziel: das optimale Verstehen von Texten. Aus philosophischer Perspektive gelte es, die Formen des Verstehens und die Methodologie der Interpretation sowie die bedeutungs- und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen dieser Methodologie zu untersuchen. Im Rahmen dieser Untersuchung sprach Scholz insbesondere Kohärenztheorien der Rechtfertigung eine vorrangige Bedeutung zu: Die Rechtfertigung von Interpretationshypothesen sei kohärentistisch, d.h. zwischen Interpretationshypothesen bestünden Erklärungsbeziehungen, die sich durch eine systematische Kohärenz wechselseitig stützen könnten.

Stierstorfer
Prof. Dr. Klaus Stiersdorfer (Anglistik)

Es folgte ein Vortrag von Klaus Stierstorfer (Anglistik) zur literarischen Form und Modellen in der Literaturwissenschaft. Stierstorfer begann mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Verortung, indem er die methodologischen Entwicklungen seines Faches nachzeichnete. Während die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich durch das literaturkritische Unternehmen der Kanonbildung geprägt sei, habe sich seit den späten 1960er Jahren, insbesondere im Rahmen der so genannten „theory wars“, eine bedeutende Veränderung vollzogen. Diese Transformation habe auch zu neuen Reflexionen auf die Literaturwissenschaften geführt, die vor allem deren Verhältnis zur Textwissenschaft betreffen. Hervorgehoben wurden die Vor- als auch die Nachteile der Zugrundelegung eines weitgefassten Textbegriffs und der damit verbundenen Ausdehnung des Untersuchungsgegenstandes literaturwissenschaftlicher Forschung. Der größte Vorteil dieser Entwicklung liegt nach Stierstorfer in der damit einhergehenden Entwicklung neuer literaturwissenschaftlicher Methoden und Konzepte, die breitere Anschlussmöglichkeiten für andere Wissenschaftsdisziplinen bieten. Die Literaturwissenschaft habe sich auf diese Weise von einer primär ‚theorieimportierenden‘ zu einer ‚theorieexportierenden‘ Disziplin gewandelt. Gleichzeitig sei aber die Frage nach Grundtheorien und Zentralbegriffen der Literaturwissenschaft vernachlässigt und damit das genuin literaturwissenschaftliche Profil tendenziell diffus geworden. Aus diesem Grund forderte Stierstorfer eine Neukonfiguration des Verständnisses von Literatur und eine damit verbundene Refokussierung auf die Literatur. Abschließend betonte Stierstorfer, welche Bedeutung den zuvor thematisierten wissenschaftstheoretischen Fragestellungen für ein geplantes Forschungsprojekt zukommen, das sich mit dem Verhältnis zwischen dem literarischen Formbegriff und der Modellbildung auseinandersetzt, und hob dabei besonders die Frage der Übertragbarkeit von Modell- und Formbildungen auf die Literaturwissenschaft hervor.

Jacobsen
Prof. Dr. Werner Jacobsen (Kunstgeschichte)

Werner Jacobsen (Kunstgeschichte) widmete sich in einem kritischen und tendenziell polemischen Vortrag dem methodischen Standort der aktuellen kunstgeschichtlichen Debatte. Als Ausgangspunkt dienten ihm eindringlich geschilderte Eindrücke von dem Vortrag eines Kollegen in Berlin, der die Bildwissenschaften als überzeugende und zukunftsträchtige methodische Strömung innerhalb der Kunstgeschichte pries. Das seltsame Erscheinungsbild der Kunstgeschichte, das in dieser Situation zum Vorschein gekommen sei, lässt sich laut Jacobsen nur vor dem Hintergrund der methodologischen Entwicklungen des Fachs in den letzten Jahrzehnten erklären. Zu deren besserem Verständnis lieferte Jacobsen einen knappen Überblick über die wissenschaftshistorische Entwicklung der Kunstgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert. Die „alte“ Kunstgeschichte, die ursprünglich aus mehreren Wissenschaftsdisziplinen hervorgegangen sei (Geschichte, Archäologie, Philosophie), habe sich in ihrer „konservativen“ Form zunehmend zu einer bloßen „Faltenzählerei“ entwickelt. Die Einführung zwar neuer, aber aus interdisziplinärer Perspektive kaum anschlussfähiger Methoden habe zu einer zunehmenden Ausgrenzung des Faches geführt. Im 20. Jahrhundert seien in der Kunstgeschichtsforschung verstärkt Methoden der Psychologie zur Anwendung gebracht worden. Die damit anfangs einhergehenden methodologischen Debatten seien allerdings heute in Vergessenheit geraten, während die Psychologisierung der Kunstbetrachtung bis in die 1960er Jahre hinein erhalten geblieben sei. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe ein allgemeiner Methodenwandel eingesetzt, der aber v.a. zu einer „uferlosen Ausdehnung“ des Kunstbegriffs und des Gegenstandsbereichs der Kunstgeschichte, die sich selbst nun primär als „Bildungswissenschaft“ betrachtet habe, geführt habe. Der so entstandenen und bis in die Gegenwart sich fortsetzenden Tendenz zur Selbstauflösung der Kunstgeschichte möchte Jacobsen mit der Einführung strengerer wissenschaftlicher Regeln begegnen. In diesem Zusammenhang fordert er eine wieder verstärkt positivistische und zugleich umfassender kontextualisierte Bearbeitung des Primärmaterials, eine breite interdisziplinäre Einbettung kunstgeschichtlichen Arbeitens, die Vermeidung minutiöser Assoziationen bei der Interpretation von Kunstwerken, eine höhere Gewichtung der Architektur (als primären wissenschaftlichen Zugang) und – last not least – die Wiedererlangung der Disputfähigkeit in der kunsthistorischen Wissenschaft.

Grittmann
Prof. Dr. Elke Grittmann (Kommunikationswissenschaften)

Die Kommunikationswissenschaftlerin Elke Grittmann stellte in ihrem Vortrag anhand eines Beispiels aus ihrer eigenen Forschung die Bildtypenanalyse als kommunikationswissenschaftliche Methode vor. Sie diskutierte Vorgehensweisen und Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das Bilder als essentiellen Bestandteil der Berichterstattung untersucht. Die zentrale Frage, wie sich Bilder als soziale und kulturelle Konstruktionen der Wirklichkeit systematisch untersuchen lassen, habe in den letzten Jahrzehnten zu einem Ausbau ikonographisch-ikonologischer Interpretationsansätze geführt, der die Implikationen technischer Medien berücksichtige. Das Ausgangsproblem bestehe darin, dass einerseits eine allgemeine Vertrautheit mit bestimmten Formen von Darstellungen (z.B. in Informationsmedien) sowie andererseits eine über die traditionelle Funktion der Illustration deutlich hinausgehende, verstärkte Visualisierung in den Medien zu konstatieren sei. Aus diesem Grunde sei eine neue Einordnung der Funktion von Bildern nötig. Anhand eines Fallbeispiels – einer Analyse von Bildern aus Berichterstattungen zur Erinnerungskultur des 11. September – versuchte Grittmann, die Reichweite entsprechender neuer Ansätze, die v.a. auf empirischen Analysen (auf quantitativer, formaler und inhaltlicher Ebene) basieren, zu verdeutlichen. Aus der Auswahl der Bilder lasse sich für den genannten Fall die Einsicht gewinnen, dass jene in erster Linie zur Emotionalisierung eingesetzt würden, statt eine politische Dimension der Ereignisse in den Vordergrund zu stellen.

Custodis
Prof. Dr. Michael Custodis (Musikwissenschaft)

Der zweite Tag des Workshops begann mit einem Vortrag des Musikwissenschaftlers Michael Custodis, der anhand eines Beispiels aus der Fachgeschichte der Musikwissenschaft den Zusammenhang des Problems ästhetischer Wirkung mit Fragen nach dem Begriff von Musik und Wissenschaft herstellte. Guido Adler habe Ende des 19. Jahrhunderts den Wissenschaftscharakter der Disziplin verteidigt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts sei eine wachsende Vielfalt der musikwissenschaftlichen Methoden zu beobachten, die insbesondere in soziologischen und psychologischen Perspektiven gründe. Die so entstandene Methodenpluralität, die auch dem Gegenstand der Musikwissenschaft geschuldet sei, habe zu Kontroversen geführt, die auf wissenschaftstheoretische Dimensionen verweisen. Der Methodenstreit seines Fachs lasse sich besonders gut anhand der Ereignisse und Debatten um die letztendlich gescheiterte Gründung eines Max-Planck-Instituts für Musik aufzeigen, die sich insbesondere an der Frage entzündete, ob mit Pierre Boulez ein Musiker und Vertreter der Neuen Musik die Leitung übernehmen solle. Wie sehr diese Debatte auch mit nationalen und spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen zu tun habe, zeige die spätere Realisierung eines ähnlichen Projektentwurfs, des IRCAM, in Paris.

Gleser
Prof. Dr. Ralf Gleser (Ur- und Frühgeschichte)

Ralf Gleser (Ur- und Frühgeschichte) befasste sich mit den Fragen, ab welchem Maß investierter Arbeit etwas ein Artefakt ist und wie Artefakte generell charakterisiert werden können. Gleser sprach sich für eine so genannte Typenontologie der Artefakte aus. In der Archäologie befasse man sich nicht mit einzelnen Artefakten, sondern mit Gruppen von Artefakten, die anhand charakteristischer Merkmale als solche bestimmt werden. Ferner seien nicht nur solche Dinge interessant, die in besonderen Akten eigens geformt und bearbeitet wurden, sondern auch so genannte „ad hoc“-Werkzeuge, beispielsweise Kieselsteine, die bereits eine Form aufweisen, die sie für einen bestimmten Einsatz nützlich machen. Um die Abgrenzung menschlicher Werke von anderen Artefakten (etwa Spinnennetzen) plausibel zu machen, verwies Gleser auf den ästhetischen Spielraum, der ein menschliches Werk kennzeichne: Dass wir Kleider tragen, sei möglicherweise notwendig, aber nicht, ob es sich um rote Hosen oder gelbe Röcke handelt. Dies hänge von ästhetischem Empfinden ab, das für die Spinnennetze hingegen keine Rolle spiele. Prähistorische Artefakte können laut Gleser prinzipiell nicht wie historische Artefakte verstanden werden. Zwar könne man die Funktionalität bei beiden Artefaktgruppen erfassen, aber die Bedeutung lasse sich bei prähistorischen Artefakten nicht in der gleichen Weise erschließen, da die hierfür nötigen Beweise unwiederbringlich verloren seien.

Achermann
Prof. Dr. Eric Achermann (Germanistik)

Eric Achermann (Germanistik) diskutierte in seinem Vortrag den Anspruch einiger Literaturwissenschaftler, die Kulturwissenschaft als neue Einheitswissenschaft zu verstehen. Laut Achermann ist es problematisch, aus der Annahme, dass in der Natur alles vernetzt sei, die Forderung abzuleiten, dass man ein holistisches Bild der Natur mittels der Wissenschaft entwickeln solle. Die Metapher des Netzes könne auch negativ ausgelegt werden. Weiterhin drohe mit einem Zusammenhangsdenken ein nachhaltiger Verlust der Unterschiede der Wissenschaften. Achermann stellte zudem heraus, dass unsere Wahrnehmung nicht allein von unserem Standpunkt abhänge, sondern auch von unserem Kontextwissen sowie von Argumentationen und Referenzsystemen, die wir zur Interpretation von Aussagen verwenden. Achermann kritisierte die Vorstellung, dass alles als Zeichen lesbar sei, und wies auf die Problematik der begrifflichen Nähe von „Konventionen“ und „Regularitäten“. Die konventionellen Zeichen müssten vielmehr unter Berücksichtigung der Intention von natürlichen vermeintlichen Zeichen unterschieden werden.

Baßler
Prof. Dr. Moritz Baßler (Germanistik)

Im letzten Vortrag des Workshops stellte Moritz Baßler (Germanistik) eine veränderte Situation in der Literaturwissenschaft fest. Erstens seien durch den so genannten „cultural turn“ die verbindlichen Grenzen des bis dato etablierten Kanons gesprengt und der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft derart erweitert worden, dass zur Interpretation eines Textes prinzipiell alles von Interesse sein könnte. Zweitens habe sich der Horizont der Literaturwissenschaft (spätestens) durch die Globalisierung auch über die Grenzen der Nationalliteraturen hinaus stark erweitert. Und drittens könnten durch die Digitalisierung der Bibliotheken wesentlich mehr Texte gesichtet und zur wissenschaftlichen Arbeit herangezogen werden, als es in der Vergangenheit möglich war. Baßler ging der Frage nach, wie die so entstandenen, neuen Archive für die Literaturwissenschaft genutzt werden könnten. Hierbei plädierte er für einen weiten Begriff von Literaturgeschichte: Sie solle sich als Geschichte von allem und jedem begreifen. Diese Überlegungen brachte er mit einem systemtheoretischen Kulturbegriff in Verbindung, demzufolge erst die vergleichende Perspektive etwas zur Kultur mache. Als Archiv sei die Summe der vorfindlichen Artefakte zu verstehen. Was (im Archiv) nicht gegeben sei, könne auch nicht bearbeitet werden. Hieraus resultiere das Desiderat, möglichst vieles in digitale Bibliotheksarchive zu überführen, um das für eine Forschung verfügbare Archiv hinreichend für gute wissenschaftliche Forschung zu erweitern.

Bild der Zuhörerschaft

Angesichts der großen Resonanz, die der Workshop im Laufe der beiden Tage fand, und auch aufgrund der vielfältigen und anregenden Diskussionen avisiert das Zentrum für Wissenschaftstheorie eine Nachfolgeveranstaltung, die sich erneut mit dem Problemfeld der Kulturwissenschaft befassen wird.