Grafschaft Ravensberg
Kartengrundlage: Nicolas Sanson d’Abbeville, Cercle de Westphalie, dat. 1659, erschienen 1675, Ausschnitt bearbeitet
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Grafschaft Ravensberg

Reformierender Landesherr: Johann III. von Kleve, reg. 1521–1539, Wilhelm V. von Kleve, reg. 1539–1592, Johann Wilhelm von Kleve, reg. 1592–1609
Reformatoren: Johannes Gogreve, Konrad von Heresbach, Johann von Vlatten
Beginn der Reform: 1525
Kirchenordnungen: 1525, 1532/33, 1567 (Entwurf)

Im 16. Jahrhundert gehörte die Grafschaft Ravensberg zum Herrschaftsbereich der Herzöge von Kleve, die damals die Herzogtümer Jülich, Kleve und Berg sowie die in Westfalen gelegenen Grafschaften Mark und Ravensberg in Personalunion regierten. Dieser territoriale Großkomplex, der sich von der Maas bis zur Weser erstreckte, war 1510 durch die Heirat Herzog Johanns (III.) von Kleve-Mark (1490–1539) mit Maria von Jülich-Berg-Ravensberg grundgelegt worden (Berg und Ravensberg waren bereits 1346 im Erbgang an Jülich gelangt). 1521 hatte Johann dann in allen Teilen die Herrschaft angetreten. Damit kam Ravensberg unter die Herrschaft eines Herzogs, der mit einer humanistischen Reform den reformatorischen Strömungen zu begegnen suchte. Diese Via media, der ‚vermittelnde Weg‘, der seinen Ursprung in Ideen des Erasmus von Rotterdam und der von ihm beeinflussten Gelehrtenkreise hatte, berührte die Dogmatik der alten Kirche nicht und bildete daher Mischformen im Gottesdienst aus. So ließ sich etwa die den Lutheranern so wichtige Kelchkommunion mit einer katholischen Messe vereinbaren. Wegen der weiten geographischen Entfernung zum Klever Stammland führte das Ravensberger Land aber in reformatorischer Hinsicht ein gewisses Eigenleben.

  • Die Via media des Herzogs

    Kirchlich gehörten die Pfarreien der Grafschaft Ravensberg zu den Diözesen Paderborn, Minden und Osnabrück. Allerdings drängte der Klever Herzog Johann (III.) nach seinem Amtsantritt den Einfluss der Bischöfe durch Maßnahmen zum Aufbau eines eigenen Kirchenregimentes zurück. Bereits am 3. Juli 1525 erließ er eine erste, relativ kurze Kirchenordnung, die von den herzoglichen Räten Johannes Gogreve, Konrad von Heresbach und Johann von Vlatten verfasst wurde. Eine weitere Kirchenordnung folgte am 11. Januar 1532 bzw. ihre Präzisierung für alle Territorien – also auch für Ravensberg – am 8. April 1533. Diese Ordnungen gaben den Rahmen der Kirchenpolitik für die nachfolgenden Jahrzehnte vor, denn sie zielten auf eine innerkirchliche Reform bei Anerkennung einiger lutherischer Kritikpunkte. In ihnen verbanden sich Forderungen der frühen evangelischen Bewegung nach „reiner Predigt“ mit der Kritik der Reform- und Humanistenkreise an den Missständen der alten Kirche. Doch die lutherische Reformation wurde abgelehnt. Die intendierte Reform sollte Gegenstand der weltlichen Verwaltung und eines (nicht spezifizierten) gemeinsamen Vorgehens mit dem Bischof sein. Was die Entstehung der Kirchenordnung angeht, so ist eine Parallele zum landesherrlichen Kirchenregiment festzuhalten, denn diese wurde ohne Beteiligung der Stände verfasst und im Namen des Herzogs verkündigt.
    Der zweiten Kirchenordnung folgte umgehend eine herzogliche Visitation der Pfarreien und anderer kirchlicher Einrichtungen, um Missstände aufzuspüren, der Wirkung der Kirchenordnung nachzugehen und weitere Reformen auf den Weg zu bringen. Dass es sich bei dieser Inspektion ebenfalls um ein Instrument landesherrlichen Kirchenregimentes handelte, zeigt zum einen, dass diese von herzoglichen Räten durchgeführt wurde, zum anderen der territoriale Zuschnitt. Denn die Gebiete wurden nach landesherrlichen Distrikten, den Ämtern, und nicht etwa nach der Bistumszugehörigkeit geordnet.

  • Die Ergebnisse der Visitation von 1533

    Da auch in Ravensberg mit Ausnahme der Stadt Herford die beiden Pfarren in Bielefeld und 23 Landpfarren visitiert wurden, ermöglichen die Protokolle einen Einblick in die dortigen Verhältnisse. Die Visitatoren trafen in der Grafschaft 1533, zu einer Zeit also, in der das Luthertum die Priesterehe propagierte, viele Pfarrer an, die im Konkubinat lebten. Fünf der sechs Kleriker des Neustädter Marienstifts in Bielefeld, darunter zwei Vikare, hatten eine „Person bi sich“. Alle fünf hatten auch Kinder mit dieser „Person“.
    Auf dem Land befragten die Visitatoren 22 Gemeinden: In Werther hatten Pastor und sein Vizekurat „magde, da si biligen“. Gleiches wurde von den Pfarrern in Isselhorst, Schildesche, Brackwede („ein person bi sich, die ein kindt von ime gehabt“), Enger, Spenge, Wallenbrück, Bockhorst, Halle (Vikar), Holzhausen, Börninghausen, Rödinghausen und Bünde vermeldet. Doch nur der Pfarrer von Spenge argumentierte im Sinne Luthers, war aber offensichtlich (noch) nicht verheiratet. Er habe auf dem Predigtstuhl gesagt, so die „Kirspelsluide“, „ein jeder soll sin fraw haven und sich darbi halden. So hav er sine und da gedenke er bi zu bliwen“. Die im Konnubium lebenden Pfarrer wurden angewiesen, die Frauen wegzuschicken.
    Neben der Frage nach dem unehelichen Zusammenleben wollten die Visitatoren von den Pfarrern wissen, ob sie die Kirchenordnung in der Predigt einhielten, also auf konfessionelle Polemik verzichteten und ob sie in der Pfarrei residierten. Ferner wurden Pfarrer und Gemeinde hinsichtlich der Finanzausstattung der Kirchenfabrik befragt. Wenn Gelder entfremdet worden waren, sollte der Amtmann Abhilfe schaffen; wenn die Kirchenrechnungen nicht geführt worden waren, wurde dies angemahnt. Auch dem Küster widmeten die Visitatoren ihre Aufmerksamkeit. Explizit hatte der Pfarrer im Sinne der Kirchenordnung auf „rottungen, zänkischen disputiren oder uffror“ zu achten, so in Schildesche. Zudem wurden die Pfarrer nach ihrem Buchbesitz gefragt – wohl nicht nur, um lutherische Sympathisanten, sondern auch um Bildungsdefizite aufzudecken.
    Am Pfründenwesen änderte sich aber nichts. Generell befanden die Visitatoren, dass die altgläubigen, durchweg konkubinarischen Geistlichen „zimlich geschickt“ in Gottesdienst und Seelsorge waren. Nur zweimal sollte ein Geistlicher seines Amtes enthoben werden; in Valdorf war dies aber ein dezidierter Lutheraner (s.u.), in Hiddenhausen ein entlaufener Mönch. Dass dieses Bild möglicherweise im Sinne einer Erfolgsbilanz der Ordnungen von 1532 und 1533 geschönt war – die Räte wollten Erfolge vorzeigen; Gemeinden ihren Pfarrer nicht verlieren –, sei nur quellenkritisch angemerkt.
    Wichtiger im Sinne einer Reformationsgeschichte ist es aber, die Möglichkeiten und Grenzen der humanistischen Reform am Beispiel der Visitation aufzuzeigen. Einzelne als Missstände gesehene Zustände (Finanzausstattung, Bildung und Amtsführung des Klerus) wurden überprüft, Hilfe von Seiten der weltlichen Verwaltung eingefordert. In Bezug auf die Frömmigkeit wurden allerdings keine Maßnahmen ergriffen. Es fehlte den Visitatoren der kritische Blick der Ordnung von 1533 auf eucharistische, Reliquien- und Heiligenkulte sowie Prozessionen und Wallfahrten, so dass es auch keine Dekrete gab. Nur ein Fall wirft ein Schlaglicht auf volksfrommes Tun: Der „witte Johann“ in Versmold sei mit seiner Frau „beruchtigt“ wegen der Teufelsbeschwörung. Er sollte daher bestraft werden. Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Ravensberger Visitation von 1533 ja nicht nur eine Kontroll- und Disziplinierungsfunktion aufwies (letztere blieb aber im Fall des Konkubinats begrenzt), sondern dass sie ebenso als kommunikatives Geschehen aufzufassen ist: Die visitierende weltliche Obrigkeit inszenierte ihren Anspruch, kirchliche Dinge zu regeln. Es wurde besichtigt, verhört, Versprechen auf Besserung abgenommen, aber auch Nachsicht geübt; es wurden Schriftstücke eingesehen, Klagen über entfremdetes Kirchengut zur Kenntnis genommen und Maßnahmen angekündigt. Diesen kirchenrechtlichen Anspruch konnte der Herzog später auch umsetzen, als er in der Grafschaft Ravensberg 1549 die Visitation des Paderborner Bischofs verhinderte.

  • Einsickern lutherischer Einflüsse

    Dass bereits 1531 lutherische Ideen auch im Ravensberger Land anzutreffen waren, zeigt der Fall der Kirchengemeinde in Valdorf, der ebenfalls im Visitationsbericht überliefert ist. Die Pfarre Valdorf befand sich im ravensbergischen Amt Vlotho und war dem Zisterzienserkloster Segensthal zu Vlotho inkorporiert, doch dieses befand sich um 1533 in einer Klemme, denn dort lebten nur noch vier Mönche und es ging dem Kloster wirtschaftlich schlecht. Diese Krise des Klosters führte wohl dazu, dass es zu keinerlei Reaktion kam, nachdem die Bewohner der Parochie 1531 ihren Pfarrer „van danne gewist und verjagt“ hatten. Der Grund für diesen parochialen Gewaltakt war ausweislich der landesherrlichen Visitation 1533, dass sich der damalige Pfarrer Hermann Kollinck – ein zur Seelsorge abgestellter Mönch des Klosters Segensthal in Vlotho und zugleich Konkubinarier – geweigert habe, nach „Gefallen“ des Kirchspiels zu predigen, und zwar „nach jetzigen nuwerungen“. Als dann das Vlothoer Kloster daraufhin einem der ihren befahl, die Kirche „zu bedienen“, akzeptierte dies die Gemeinde nicht („hat ine nit zulaßen wollen“). Stattdessen nahm sie Christian Bernhardi zum Pfarrer an. Dies war ein glatter Rechtsbruch. Bernhardi wurde, so das Visitationsprotokoll von 1533, „gesendet“ mit Konsens des Kirchspiels und des Vlothoer Drosten. Die Visitatoren erfuhren aber noch mehr über diese ostwestfälische „Gemeindereformation“. Bernhardi war ein „entlaufener Mönch“ des Herforder Franziskanerklosters, und er wusste um die konfessionellen Konfliktlagen. Er predigte in Valdorf gegen die Mönche zu Vlotho, schalt sie „Gottlose“ und „Heuchler“, verwarf die Eucharistielehre der katholischen Kirche, taufte im Kirchspiel in der „nuwe wise“, d.h. ohne Chrisam und nicht auf Latein. Zudem spendete er denjenigen, die es begehrten, die Kommunion unter beiderlei Gestalt.
    Dies wird aber nicht der einzige Fall eines lutherischen Pfarrers geblieben sein. Denn: Weil mit der Visitation und der humanistischen Kirchenreform insgesamt in Ravensberg an den überkommenen Strukturen des Katholizismus (Patronatsrechte, Inkorporationen, Stellvertretertum) nicht gerüttelt wurde, konnte sich hier sukzessive das Luthertum weiter ausbreiten. Möglichkeiten der Ahndung besaßen der Herzog und seine Regierung kaum, da kein neuer kirchlicher Apparat aufgebaut wurde und der weltliche Arm mitunter sein eigenes konfessionelles Spiel betrieb. Die herzogliche Verwaltung kümmerte sich kaum um das Nebenland. Deshalb existieren auch keine weiteren Quellen zur Reformation in den ländlichen Kirchspielen der Grafschaft Ravensberg. Manches wird aber den Verhältnissen im Mindener Land und denen der Grafschaft Mark geähnelt haben.

  • Der Reformationsprozess bis 1650

    Diese Entwicklungen führten zu einer andersartigen Kirchen- und Gemeindeverfassung um 1600. Während andernorts der Landesherr, z.T. mit den Ständen, oder der Rat das Kirchenregiment ausübte, also die Personalhoheit besaß, Kirchenordnungen erließ und das Ius reformandi beanspruchte, verblieben all diese Handlungsmöglichkeiten bei den Pfarrern und – in Ansätzen – bei den Gemeinden. Im ravensbergischen Luthertum bildeten sich letztendlich Synoden als oberste Leistungsorgane heraus, die das Ius in sacra ausübten. Der Grund für Letzteres war, dass 1609 der Herzog Johann Wilhelm von Kleve kinderlos starb. Die Erbberechtigen, Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg und Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, übernahmen die herzoglichen Territorien. Am 10. Juni 1609 versicherten dieser und Markgraf Ernst von Brandenburg den kleve-märkischen Ständen, die „katholische wie auch andere christliche Religion“ zu „continuieren, zu manutenieren, zuzulassen und darüber niemanden in seinem Gewissen noch Exerzitio zu turbieren [stören], zu molestieren noch zu betrüben.“ Diese zukunftsweisende staatliche Neutralität in Religionsdingen blieb auch erhalten, als das Herzogtum Kleve mit den westfälischen Grafschaften Mark und Ravensberg 1614 in den alleinigen Besitz der inzwischen reformierten Hohenzollern überging. Beansprucht wurde von den Hohenzollern lediglich die Aufsicht (Ius circa sacra); die Zeit der von ‚oben‘ verordneten humanistischen Reform war vorbei.
    Auf der Synode in Bielefeld vom 4. November 1612 kamen erstmals die lutherischen Pfarrer Ravensbergs zusammen. Hier bestätigten sie die Confessio Augustana und weitere lutherische Bekenntnisschriften für ihre Gemeinden. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass sich im kleinen Ravensberg die Synodalverfassung nicht durchsetzen konnte: Hier bildete sich später ein Konsistorium, dem die Vertreter der Geistlichkeit und des Landesherrn angehörten.

  • Fazit

    Insgesamt kann für die westfälischen Territorien der Herzöge von Jülich-Kleve-Berg eine verspätete und nur langsam voranschreitende, zum Teil unvollkommene Reformation im Sinne des Luthertums festgehalten werden. Der späte Beginn beruhte darauf, dass die humanistisch orientierte Ordnung des Jahres 1532 und die Declaratio 1533 in den Städten die Reformation behinderten. Der herzogliche Druck konservierte die katholischen Strukturen, sodass sich nur ganz allmählich unter der Hülle der alten Kirche Veränderungen ergaben. Dies alles führte in den Grafschaften Mark und Ravensberg (Bielefeld) dazu, dass katholisch geweihte Kleriker auf Pfarrstellen installiert wurden und auch geweihte Kleriker die Vizekuratenstellen einnahmen, die dann, je nach Konstellation vor Ort, agendarische Neuerungen im Gottesdienst sukzessive zuließen und die Kommunion unter beiderlei Gestalt spendeten. Doch eine Kirchenordnung mit Verweis auf das Augsburger Bekenntnis und eine Übernahme des Patronatsrechtes durch den Rat erfolgten nicht. Akteure für Reform und die Langzeitreformation waren neben Pfarrer und Rat auch lokale Adlige, die – oft als landesherrliche Beamte tätig – eigene konfessionelle Interessen verfolgten.

Literatur
Heribert Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, hrsg. v. Anton Schindling u. Walter Ziegler, Bd. 3: Der Nordwesten, Münster 1991, S. 86 – 106.

Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 21: Nordrhein-Westfalen I, bearb. v. Sabine Arend, Tübingen 2015, S. 31 – 101.

Werner Freitag, Die Reformation in Westfalen. Regionale Vielfalt, Bekenntniskonflikt und Koexistenz, Münster 2016, S. 193 – 226.

URL zur Zitation: www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte/reformation-in-westfalen/Reformation_in_Westfalen/territorienderreformation/gftravensberg/index.html