Teilprojekt B04

Wahrheitsentscheidungen und Zwang zur Positionierung: Die kommunikative Herstellung von Entscheidungsbedarf in der frühen Reformation

Die frühe Reformation war ein entscheidungskulturelles Experimentierfeld: Es wurde eine neue Pluralität religiöser Optionen diskutiert, aber auch debattiert, ob man sich überhaupt zu entscheiden habe. Zwar propagierte die reformatorische Polemik von Beginn an einen scharfen Dualismus zwischen wahrer und falscher Kirche, doch gab es eine Vielzahl noch sehr fluider Bekenntnisoptionen. Auch war umstritten, wie politische Entscheidungen über religiöse Fragen herbeizuführen seien. Waren Glaubensfragen individuell oder kollektiv also überhaupt entscheidbar bzw. wurden sie dies in der Reformation? Das Teilprojekt B04 fragte daher danach, inwieweit sich in der frühen Reformation die kulturellen und kommunikativen Bedingungen des (religiösen) Entscheidens wandelten. Dies geschah über die Erforschung zweier zentraler Themen: zum ersten die Stadtreformation mit dem neuen Entscheidungsforum der städtischen Religionsgespräche (Unterprojekt A), zum zweiten das Verhältnis von Humanismus und Reformation (Unterprojekt B). In beiden Unterprojekten liegt das Hauptaugenmerk auf der Herstellung von Entscheidungsnotwendigkeit und auf der Inszenierung der Entscheidung.

Die Forschung zu den Religionsgesprächen hat sich bisher kaum mit der Frage beschäftigt, wie die kommunikative Verengung von Optionen vor sich ging und wann und warum es zu Religionsgesprächen kam. Statt aber die religiösen Kontroversen linear auf eine Entscheidungssituation zulaufen zu lassen, galt es vielmehr danach zu fragen, wer mit welchen Mitteln eine Entscheidungssituation forcierte. Im Mittelpunkt des Unterprojekts A standen daher die „Vorgeschichte“ der Religionsgespräche und die Frage danach, wie in der frühen Reformation religiöse Wahrheit als Entscheidungsgegenstand modelliert wurde. Im Fall der Humanisten wird in der Forschung vorwiegend mit ‚mentalen‘ Entscheidungsprozessen, inneren Krisen etc. argumentiert. In Abgrenzung dazu ging das Unterprojekt B davon aus, dass es sich bei den humanistischen Positionierungen um Akte handelt, für die Entscheidungsbedarf kommunikativ erzeugt wurde. Es war bisher nicht systematisch erforscht, wie sich die Entscheidung der Humanisten für oder gegen die Reformation vollzog, wie, wann und warum Entscheidungsspielräume kommunikativ verengt wurden und wie diese Entscheidungen (oder im Einzelfall auch die Verweigerung der Entscheidung) kommuniziert wurden.

Publikationen

Matthias Pohlig

  • Eine Neuzeit ohne Reformation?, in: Eine andere deutsche Geschichte (1517-2017). Was wäre gewesen, wenn…?, hrsg. von Christoph Nonn und Tobias Winnerling, Paderborn 2017a, S. 20-36.
  • Jubiläumsliteratur? Zum Stand der Reformationsforschung im Jahr 2017, in: Zeitschrift für Historische Forschung 44 (2017b), S. 1-61.
  • „schleunige Mutation ohne vorhergehende reiffe deliberation“? Kurfürst Johann Sigismunds Konversion von 1613 als Entscheidung, in: Kreuzwege. Die Hohenzollern und die Konfessionen, 1517-1740, hrsg. von Mathis Leibetseder, Berlin 2017c, S. 82-91.
  • Entscheiden dürfen, können, müssen: Die Reformation als Experimentierfeld religiösen Entscheidens, in: Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, hrsg. von Wolfram Drews, Ulrich Pfister und Martina Wagner-Egelhaaf, Würzburg 2018a, S. 201-226 (im Druck).
  • Die Reformation und das Problem des religiösen Entscheidens, in: Archiv für Reformationsgeschichte 109 (2018b), S. 316-330.
  • (zusammen mit Philip HOFFMANN-REHNITZ und André KRISCHER) Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217-281.
  • „Hierin vrteil du frumer Christ Welche leer die warhaffts ist“. Semantiken und Narrative des religiösen Entscheidens in der Reformation, in: Semantiken und Narrative des Entscheidens, hrsg. von Philip Hofmann-Rehnitz, Matthias Pohlig, Tim Rojek und Susanne Spreckelmeier, Göttingen 2019 (zum Druck angenommen).

Hanna Goyer

  • Der Moment der Entscheidung? Die Einführung der Reformation in Nürnberg als Ergebnis von Minimalentscheidungen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 109 (2018), S. 331-350.

Laura-Marie Krampe

  • „Ich wünschte nur, wir wären eins in Christo.“ Die Reformationsentscheidungen des Humanisten und Juristen Dr. Christoph Scheurl II., in: Archiv für Reformationsgeschichte 109 (2018), S. 351-372.
  • (zusammen mit Alexander DURBEN et al.) Interaktion und Schriftlichkeit als Ressourcen des Entscheidens (ca. 1500-1850), in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen (Kulturen des Entscheides, 1), hrsg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 168-208.