Teilprojekt B02

Problematische Prozesse. Kritik und Reflexion der Entscheidungspraxis der mittelalterlichen Ketzerinquisition (ca. 1230-1330)

Die mittelalterliche Inquisition erscheint der Gegenwart als fast schon emblematisches Bild unzulässigen Entscheidens, denn der Bereich individueller Religiosität wird heute als unverfügbar für rechtliche Entscheidungen gesehen. Den Frühformen der Inquisition wird zudem fehlende Offenheit des Entscheidens, Machtorientierung und Willkür unterstellt. Das Teilprojekt verfolgte diese Thematik, setzte jedoch nicht an moderner, sondern mittelalterlicher Kritik an: Schon im 13. und frühen 14. Jahrhundert waren sowohl städtische Oberschichten wie lokale klerikale Akteure in der Lage, Widerstand gegen die Ketzerinquisition zu artikulieren. Besonders in Südfrankreich und Italien bewirkte die zeitgenössische Kritik auch theoretische Reflexion in Consilia und Inquisitorenhandbüchern, die wiederum Rückwirkungen auf eine allmählich veränderte Praxis hatte. Die Anfänge der inquisitio haereticae pravitatis erscheinen daher als eine allmähliche, nicht zuletzt ‚von unten‘ angetriebene Ausgestaltung von Entscheidungsprozessen. Zudem erscheint der Wandel nicht als rechtsimmanente Entwicklung, sondern als Abgleich verschiedener Logiken und Legitimitätsressourcen des Entscheidens.

Für das Entscheiden über Orthodoxie und Häresie waren rechtliche wie religiöse Rahmungen und Entscheidungsmodi vorhanden, so dass verschiedene rechtliche und religiöse „Rationalitäten“ fortgesetzt gegeneinander ausgespielt werden konnten. Besonders in komplexeren Fällen, in denen die Inquisitoren mit lokalen Eliten in Konflikt gerieten, wurde die Legitimität ihres Entscheidungshandelns zudem durch Vorwürfe der Bestechlichkeit und Befangenheit bestritten, die rechtliche und religiöse Rahmungen mit wirtschaftlichen und politischen Interessen in Zusammenhang brachten. Insbesondere traf dies Inquisitoren aus den Bettelorden, die in lokale Besitzstrukturen verstrickt waren und denen man mit dem Vorwurf der Interessenorientierung und Begünstigung von Ordensförderern gleichzeitig auch die religiöse Eignung absprechen konnte. Das Projekt untersuchte an derartigen Fällen, wie in mittelalterlichen Gesellschaften über die richtige Rahmung des inquisitorischen Entscheidens, aber auch über den Einsatz unterschiedlicher Formen und Modi des Entscheidens reflektiert wurde und auf welche Narrative und Deutungen hierbei zurückgegriffen wurde. Grundannahme war, dass in der Auseinandersetzung um die Modi und die korrekte Rahmung von Entscheidungsprozessen Grenzarbeiten zwischen verschiedenen Kulturen des rechtlichen, religiösen oder wirtschaftlichen Entscheidens sichtbar werden.

Publikationen

Sita Steckel

  • (zusammen mit Stephanos DIMITRIADIS, Florin FILIMON, Konstantin MAIER und Sebastian ROTHE) Expertenentscheidungen in der Vormoderne. Politisierung von Expertise und Konkurrenz der Experten in politischen Entscheidungsprozessen des lateinischen und byzantinischen Mittelalters, in: Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen (Kulturen des Entscheidens, 1), hrsg. von Ulrich Pfister, Göttingen 2019, S. 287-313.
  • Problematische Prozesse. Die mittelalterliche Inquisition als Fallbeispiel der Problematisierung religiösen Entscheidens im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 365-399.

Alberto Cadili

  • Disciplinare l’inquisizione: spunti a partire da un caso marchigiano. Con l’edizione critica del processo del 1346-47 contro l’inquisitore Pietro da Penna San Giovanni, in: Picenum Seraphicum. Rivista di studio storici e francescani 31 (2018) (zum Druck angenommen).
  • Bidirektionale Narrative: Die Kritik des (fiktiven?) Entscheidens der Inquisition als vorwiegend religiöse Sprache (Italien 1230-1330), in: Semantiken und Narrative des Entscheidens, hrsg. von Philip Hoffman-Rehnitz, Matthias Pohlig, Tim Rojek und Susanne Spreckelmeier, Göttingen 2019a (zum Druck angenommen).
  • Kritik und Reflexion der Entscheidungsprozesse oberitalienischer Inquisitoren (13. - 14. Jahrhundert): Forschungsperspektiven und Forschungsstand, in: Frühmittelalterliche Studien 53 (2019b) (zum Druck angenommen).