„Schlagseite zugunsten der Kirchen“

Wissenschaftler sehen Reformbedarf in der Religionspolitik

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Prof. Dr. Ulrich Willems

© Julia Holtkötter

Die deutsche Religionspolitik muss nach Einschätzung von Wissenschaftlern reformiert werden. Der Staat bevorzuge die christlichen Großkirchen in vielerlei Hinsicht, zugleich benachteilige er Minderheitsreligionen wie den Islam, kritisierte Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster im Nachgang zu einer Tagung über Religionsfreiheit. „Das bedarf einer Korrektur. Sonst wird gegen das Gleichbehandlungsgebot im neutralen Staat verstoßen.“ Jurist Prof. Dr. Fabian Wittreck sagte, das Religionsverfassungsrecht sei zwar „auf dem Papier für die wachsende religiöse Vielfalt gut gerüstet“. In der Praxis werde es aber derzeit noch nicht entsprechend angewandt. „Da haben die Kirchen in Zukunft große Umbrüche zu erwarten.“

Die Religionspolitik steht nach Einschätzung der Wissenschaftler vor erheblichen Herausforderungen. „Die zunehmende Pluralisierung der Gesellschaften, internationale Wanderungsprozesse und der Bedarf nach einer erfolgreichen Integrationspolitik setzen das Thema auf die Tagesordnung“, sagte Sozialethikerin Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins. Als Beispiele nannte sie die Kontroversen um Kopftuch, Moscheebauten, Islam-Unterricht oder „Pro Reli“-Volksbegehren sowie Forderungen nach einer christlich-jüdischen Leitkultur und wachsende Atheismus-Debatten.

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Prof. Dr. Fabian Wittreck

Die Kirchen in Deutschland können nach Einschätzung des Juristen Wittreck nicht mehr selbstverständlich mit einer Rechtsauslegung zu ihren Gunsten rechnen. Immer mehr Fragen würden von europäischen Gerichten entschieden, die sich sichtlich um europaweite Einheitlichkeit bemühten. Als Beispiele nannte er die jüngsten Urteile zu Kruzifixen in italienischen Schulen und zum kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland. Zudem wachse eine Generation von Rechtswissenschaftlern, Richtern und Verwaltungsbeamten nach, die keine große Kirchennähe mehr aufweise. „Die im Grundton kirchenfreundliche Interpretation des Religionsverfassungsrechts wird in Frage gestellt werden.“

Für die Religionsgemeinschaften folgt daraus aus Sicht des Theologen Dr. Daniel Bogner die Pflicht zu klären, welche Aspekte ihres Wirkens sie für unverzichtbar erachten und dauerhaft unter dem Schirm der Religionsfreiheit geschützt sehen wollen. „Ob all die Vergünstigungen, die eine Religionsgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts erhält, theologisch geboten sind, erscheint doch sehr zweifelhaft. Die großen Kirchen sollten darüber nachdenken, ob sie nicht einigen staatskirchlichen Ballast abwerfen können, um ihrem Auftrag, in der Gesellschaft Zeugnis für Gottes Gerechtigkeit zu geben, besser und glaubwürdiger nachkommen zu können“, sagte Bogner.

Politikwissenschaftler Willems sprach von einer „Asymmetrie“ in der Religionspolitik, die „Ausdruck einer machtvollen Durchsetzung von Interessen“ sei. Während den Ansprüchen der Kirchen Folge geleistet werde, würden Muslimen bisher religiöse Rechte allenfalls „gewährt“. Die Politik könne sich auf Dauer eine solche „Schlagseite“ zugunsten der Kirchen aber nicht leisten, und die Gerichte könnten nicht für die ständige Korrektur sorgen. Denn die heftige Kritik der Bevölkerung am Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 habe gezeigt, dass sich solche Fragen nicht mehr allein rechtlich regeln ließen. „Deswegen braucht es eine neue Religionspolitik, die als wesentliches Ziel die Gleichbehandlung religiöser Traditionen verfolgt.“ Diese neue Religionspolitik werde nur erfolgreich sein, wenn alle Betroffenen in einen Verhandlungsprozess eingebunden würden. Es bleibt laut Willems aber Aufgabe der Gerichte zu prüfen, ob das Gleichheits- und Neutralitätsgebot beachtet wird.

Die Wissenschaftler äußerten sich nach der Cluster-Tagung „Freiheit, Gleichheit, Religion“. Experten verschiedener Fachrichtungen befassten sich auf Einladung der Sozialethikerin Heimbach-Steins und des Theologen und Menschenrechtsexperten Dr. Daniel Bogner mit dem Thema „Religionspolitik als neue Herausforderung“. Heimbach-Steins und Bogner forschen am Exzellenzcluster im Projekt A16 „Das Ethos der Religionsfreiheit. Politisch-ethische und theologische Dimensionen“. (vvm)