Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1908, Inhalt
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1908 - Unter der Überschrift "Kolonialwissenschaften" werden im Vorlesungsverzeichnis der Universität Münster fächerübergreifend Lehrveranstaltungen angeboten.

[Welche Rolle der deutsche Kolonialismus an der Universität Münster spielte, ist wenig erforscht. Zusammen mit dem Stadtarchiv Münster hat Dominic Eickhoff, der zugleich studentische Hilfskraft im Projekt Zur Sache WWU ist, eine Homepage mit interaktiver Kartenanwendung zum Kolonialismus in Münster erarbeitet: Koloniale Räume in Münster. Eine Spurensuche.
Die folgende Darstellung fasst erste Ergebnisse für die Universität Münster zusammen und wird laufend ergänzt.]

Im Zeitraum von 1908 bis 1917 kündigte die Universität Münster in den Vorlesungsverzeichnissen zahlreiche Veranstaltungen unter dem Sammelbegriff „Kolonialwissenschaften“ an (vgl. hier). Bemerkenswert ist, dass diese „Kolonialwissenschaften“ in der Gliederung des Verzeichnisses als fächerübergreifendes Thema markiert sind - zunächst innerhalb der Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät auf einer Ebene mit den verschiedenen Abteilungen, ab Sommer 1909 auf gleicher Ebene wie die Fakultäten. Dennoch gab es weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt einen Lehrstuhl, ein Seminar oder ein Institut für Kolonialwissenschaften. Ähnlich wie bei Veranstaltungen für Hörer:innen aller Studiengänge wurden unter dieser Überschrift lediglich solche Veranstaltungen nochmals verzeichnet, deren Inhalte einen Bezug zu den deutschen Kolonien oder dem Kolonialismus im Allgemeinen aufwiesen. Dabei wurden Vorlesungen genauso gelistet wie Übungen und Exkursionen, allgemein zugänglich oder als geschlossene Veranstaltungen, wie z.B. heutige Forschungskolloquien.

Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1909, Inhaltsverzeichnis (Detail)
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Unklar ist bisher, wie es konkret zu der Entscheidung kam, die Kolonialwissenschaften derart prominent im Lehrangebot der Universität zu verankern, denn schon vor 1908 finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen Veranstaltungen mit eindeutigem Bezug zu den deutschen Kolonien oder „Schutzgebieten“. In einem Brief vom 11. Juni 1909 an das preußische Kultusministerium berichtet der Oberpräsidenten von Westfalen aber, dass seine Bemühung gegenüber der Universität, die „kolonialen Disziplinen“ in den Lehrplan aufzunehmen, auf „sympathische Aufnahme“ gestoßen sei; gleiches habe er bereits dem Reichskolonialamt mitgeteilt und leite eine Extravergütung für den zusätzlichen Arbeitsaufwand einzelner Kolonialwissenschaftler in die Wege. Die Initiative hierzu kam also aus der Politik, wahrscheinlich aus Berlin. Bei der Durchsicht der Vorlesungsverzeichnisse zeigt sich, dass es - trotz avisierter Sondervergütung - nur ein kleiner Personenkreis ist, der sich kontinuierlich mit kolonialen Themen beschäftigte und dies auch zur akademischen Profilierung nutzte.

Die Etablierung der Kolonialwissenschaften an der Universität Münster fällt zusammen mit Veränderungen in der Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs: Im Jahr 1907 schlugen deutsche Kolonialtruppen den seit 1905 andauernden sogenannten Maji-Maji-Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft in „Deutsch-Ostafrika“ (entspricht weitgehend dem heutigen Tansania) nieder. Auch im unter deutscher Kolonialherrschaft stehenden Kamerun kam es zwischen 1904 bis 1906 zu Unruhen. In „Deutsch-Südwest“ (dem heutigen Namibia) dauerte der 1904 begonnene Kolonialkrieg, der im Völkermord an den Herero und Nama gipfelte, weiter an. Die Ereignisse wurden schon damals in Berlin heftig kritisiert und ein Antrag der Regierung, die Weiterführung dieses Kolonialkriegs über einen Nachtragshaushalt zu finanzieren, im Reichstag abgelehnt. Daraufhin löste Reichskanzler Bülow den Reichstag auf. Nach den Neuwahlen im Januar 1907 wurde der Nachtragshaushalt zwar genehmigt, der Kriegszustand aber wurde zwei Monate später für beendet erklärt - Ausdruck eines Reformprozesses innerhalb der deutschen Kolonialverwaltung, der bereits um 1905 einsetzte. Ziel war jetzt nicht mehr koloniale Expansion und der militärische Schutz deutscher Unternehmungen, sondern der Aufbau klarer Strukturen zur Stabilisierung der Herrschaft. Die Zusammenarbeit von Politik, Wirtschaft, Mission und Wissenschaft wurde von der Regierung strategisch gefördert, um die Bewirtschaftung der Kolonien zu optimieren.

Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1908, S. 41 (Detail)
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Entsprechend finden sich in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Münster unter der Überschrift „Kolonialwissenschaften“ vor allem Veranstaltungen zur Geographie, Rechtswissenschaft und Ökonomie. Mit Veranstaltungen zur Missionswissenschaft, (Kolonial-)Botanik, (Kolonial-)Zoologie und (Kolonial-)Hygiene deutet sich darüber hinaus die Ausbildung von Spezialdisziplinen an. Hinzu kommen Veranstaltungen aus dem Themenfeld Anthropologie, Ethnologie bzw. Völkerkunde. Unwahrscheinlich ist allerdings, dass in Münster unter dem Begriff „Kolonialwissenschaften“ eine Forschung für die „koloniale Sache“, wie etwa in Berlin, Köln oder etwa am Hamburgischen Kolonialinstitut betrieben wurde.

Bis 1912/13 wurden kontinuierlich kolonialwissenschaftliche Veranstaltungen angeboten, ab Sommer 1913 aber scheint bei den meisten Wissenschaftlern kein Interesse mehr an dem Themenfeld bestanden zu haben. Lediglich im Winter 1914/15, also kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, findet sich in der Rubrik nochmal ein umfangreicheres Angebot, in den Sommern 1916 und 1917 entfallen die „Kolonialwissenschaften“ ganz. Ab Wintersemester 1917/18 wird die Rubrik durch „Vorlesungen über Auslandskunde“ ersetzt - dies obwohl Deutschland die Kolonien erst mit Ende des Ersten Weltkriegs (formell im Versailler Vertrag 1919) einbüßte. Ein fakultätsübergreifender „Ausschuss für Auslandsvorlesungen“ kümmerte sich jetzt um die Einwerbung eines umfassenden Lehrangebots. Und zwischen den jetzt gelisteten Vorlesungen zur britischen Geschichte, italienischen Kunst oder internationaler Politik, boten viele Lehrende ihre ehemals kolonialwissenschaftlichen Veranstaltungen weiterhin an, lediglich Zusätze wie „in den Kolonien“ oder „in den deutschen Schutzgebieten“ entfielen. Im Wintersemester 1931/32 wurden die Kolonialwissenschaften unter „Vorlesungen über Auslandskunde und Kolonialwissenschaft“ wieder offiziell eingeführt und die Veranstaltungstitel nahmen wieder ausdrücklich Bezug auf die ehemaligen deutschen Kolonien und spiegeln damit den Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und des beginnenden Nationalsozialismus wider.

Literatur:

Bade, Klaus J. Das Kaiserreich als Kolonialmacht: Ideologische Projektionen und historische Erfahrungen. In: Becker, Josef et al. (Hgg.) Die Deutsche Frage im 19. Und 20. Jahrhundert. (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg, Nr. 24). München 1983. S. 91-108.

Eckert, Andreas (Hg.). Universitäten und Kolonialismus. (Jahrbuch für Universitätsgeschichte, Bd. 7) 2004.

Kundrus, Birthe (Hg.). Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus. 2003.

Verwendete Quellen:

Amtsblatt der WWU 1938 bis 1944.
Chronik der Königlichen Akademie zu Münster 1887-1902.
Chronik der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster 1903-1936.
Personalverzeichnisse der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1890 – 1946.
Vorlesungsverzeichnisse der Königlichen Universität zu Münster 1902-1907.
Vorlesungsverzeichnisse der Königlich-Preußischen Theologischen und Philosophischen Akademie zu Münster 1890-1902.
Vorlesungsverzeichnisse der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1890 – 1946.

  • Theologie

    [Die Evangelisch-Theologische Fakultät in Münster wurde 1914 gegründet, daher geht es im Folgenden um Lehrende der katholischen Theologie.]

    Seit 1907 als Privatdozent mit kirchengeschichtlichem Schwerpunkt bot Joseph Schmidlin ab dem Sommersemester 1909 regelmäßig missionswissenschaftliche Veranstaltungen an, von denen jedoch nur drei in der Rubrik Kolonialwissenschaften gelistet wurden: 1909/10 „Neuere Geschichte der auswärtigen Missionen, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien“, 1912/13 „Die katholische Mission in den deutschen Schutzgebieten“ und 1914/15 „Das Christianisierungswerk in China“. 1911 wurde für Schmidlin mit päpstlicher Zustimmung in Münster der weltweit erste Lehrstuhl für Missionswissenschaften eingerichtet. Schmidlin gründete die „Zeitschrift für Missionswissenschaft“ und schrieb Standardwerke für die missionarische Theorie und Praxis, wie etwa die 1919 erschienene „Katholische Missionslehre im Grundriss.“ Als Gegenstand der Missionswissenschaft galt für Schmidlin „die noch zu bekehrende, also noch nicht bekehrte (heidnische im weiteren Sinne) Welt“ (zitert nach Evers 2018, S. 52), Missionswissenschaft beschäftigt sich also in seinem Verständnis mit „Konversionstheorie“ (ebd.).

    Ab 1917 war Schmidlin Mitglied des „Ausschusses für Auslandsvorlesungen“ der Universität Münster. In den 1920er Jahren arbeitete er daran, seinen Lehrstuhl zu einem missionswissenschaftlichen Institut aufzubauen und einen eigenen Diplomstudiengang einzurichten, für den er bereits vor Zulassung bei verschiedenen Missionsgesellschaften Werbung betrieb.

    In einem Bericht über die Anfänge der Missionswissenschaften in Münster berichtete Schmidlin 1927, dass er mit seiner Vorlesung über das katholische Missionswesen in den deutschen Kolonien auf eine Bitte seiner Fakultät reagiert habe, das Kolonialwesen in der Lehre zu berücksichtigen. Da dies zeitlich mit der Einführung der disziplinübergreifenden Kolonialwissenschaften in Münster zusammenfällt, liegt die Vermutung nahe, dass diese Bitte aus Berlin an die gesamte Universität gegangen war -  inwieweit das Reichskolonialamt hier direkt involviert war, ist zu prüfen, denn die Universität Münster war dem preußischen Kultusministerium unterstellt.

    Auch wenn sich in seinen Texten immer wieder rassisch gefärbte Formulierungen finden, positionierte sich Schmidlin schon früh gegen die nationalsozialistische Ideologie und wies in mehreren Veröffentlichungen auf inhaltliche Widersprüche der Nationalsozialisten hin. 1934 wurde Schmidlin durch die Universität zwangspensioniert und erhielt Hausverbot. Nach seiner Verhaftung und Internierung wegen Kritik am NS-Regime, starb Schmidlin 1944 im Sicherungslager Vorbruck-Schirmeck.

    Festzuhalten ist, dass, abgesehen von den Vorlesungen Schmidlins, keine theologische Veranstaltungen in der Rubrik „Kolonialwissenschaften“ gelistet waren, zugleich aber durchaus Veranstaltungen angeboten wurde, die im heutigen Verständnis einen kolonialistischen Gestus vermuten lassen - so z.B. die Vorlesung „Negerreligionen“, die Josef Dölger, ab 1912 Inhaber des Lehrstuhls für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte, im Winter 1916/17 hielt.

    Hegel, Eduard. Geschichte der katholisch-theologischen Fakultät Münster 1773-1964. Erster Teil. In: Kötting; Ratzinger (Hgg.). Münsterische Beiträge zur Theologie (Heft 30,1). 1966.

    Hegel, Eduard. Geschichte der katholisch-theologischen Fakultät Münster 1773-1964. Zweiter Teil. In: Kötting; Ratzinger (Hgg.). Münsterische Beiträge zur Theologie (Heft 30,2). 1971.

    Müller, Karl. Josef Schmidlin (1876-1944). Papsthistoriker und Begründer der katholischen Missionswissenschaft. 1989.

    Schmidlin, Josef. Die katholischen Missionen in den deutschen Schutzgebieten. 1913.

    Schmidlin, Josef. Katholische Missionslehre im Grundriss. 1919.

    Stange, Erich. Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. 1927. Josef Schmidlin vgl. S. 166-191.

  • Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften

    [Bis 1969/70 bildeten die Rechts- und die Wirtschaftswissenschaften in Münster zusammen die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, daher werden beide Themenfelder hier zusammen behandelt.]

    Der Nationalökonom Josef Schmöle widmete sich in zwei Veranstaltungen den geopolitischen Betrachtungen des Kolonialismus, etwa in den „Übungen des staatswissenschaftlichen Seminars über Kolonialpolitik“ im Sommersemester 1908 oder der Vorlesung „Ausgewählte Fragen der Kolonialpolitik“ im WiSe 1910/11.  Ebenfalls mit einem nationalökonomischen Fokus, hielt Aloys Bömer, Professor für angewandte Chemie, im Sommersemester 1909 einmalig die Vorlesung „Die landwirtschaftlichen und technischen Erzeugnisse der deutschen Kolonien“ als kolonialwissenschaftliche Veranstaltung.

    Den mit Abstand größten Beitrag zu den „Kolonialwissenschaften“ lieferte der Jurist Hubert Naendrup, der bereits ab Winter 1904/05 regelmäßig Veranstaltungen zum „Kolonialrecht“ anbot. 1908 publizierte er das Buch „Entwicklung und Ziele des Kolonialrechts“, 1912 „Die Entwicklung des Geldwesens in den deutschen Kolonien“, außerdem war er Herausgeber der von 1908 bis 1914 erscheinenden Zeitschrift „Kolonialrechtliche Abhandlungen“. 1911 erhielt Naendrup die Lehrbefugnis für "Kolonialrecht, 1914 wurde er zum ordentlichen Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Kolonialrecht ernannt. Bemerkenswert ist, dass er auch nach 1918/19 seine Vorlesungen zum „Kolonialrecht“ fortsetzte. Die Personalie Naendrup steht damit auch für eine weitere Dimension der kolonialen Lehre, die nach einer wissenschaftlichen und rechtlichen Legitimation des Kolonialismus suchte.

    Seit 1909 war Naendrup stellvertretender Vorsitzender der münsterschen Ortsgruppe der Deutschen Kolonialgesellschaft und von 1912 bis 1914 deren Vorsitzender. Als ehemaliges DNVP- und als späteres NSDAP-Mitglied, wurde er im Wintersemester 1933/34 zum ersten Rektor der Universität im Nationalsozialismus ernannt und gehörte damit auch der Gleichschaltungskommission an, die für die Entlassung von jüdischen Universitätsangehörigen und Regimekritiker*innen zuständig war.

    Felz, Sebastian. Recht zwischen Wissenschaft und Politik. Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Münster 1902 bis 1952. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 10) 2016.

    Habermas, Rebekka. Die deutschen Großforschungsprojekte zum „Eingeborenenrecht“ um 1900 und ihre Folgen. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung. 2012. Vol.129 (1), S.150-182. (Zu Kolonialrecht und den „Kolonialrechtlichen Abhandlungen“)

    Haunfelder, Bernd. Die Rektoren, Kuratoren und Kanzler der Universität Münster 1826-2016. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 14) 2020.

    Steveling, Liselotte. Juristen in Münster. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. (Beiträge zur Geschichte der Soziologie, Bd. 10) 1999.

     

  • Medizin

    Schon bevor im Jahr 1925 die Medizinische Fakultät gegründet wurde, konnte man in der medizinisch-propädeutischen Abteilung der Philosophisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät sein medizinisches Studium bis zum Physikum absolvieren, mussten zum Erreichen eines vollgültigen medizinischen Abschlusses die Universität wechseln. Entsprechend wenige medizinische Veranstaltungen tauchen in der Rubrik „Kolonialwissenschaften“ auf. Der Arzt Joseph Arneth bot im Sommer 1909 und im Winter 1909/10 in der Rubrik eine Vorlesung zu „Tropenkrankheiten und deren Prophylaxe“ an. Zusammen mit der Vorlesung „Die tierischen Parasiten des Menschen mit besonderer Berücksichtigung der Erreger kolonialer Krankheiten“, die der Zoologe Walter Stempell in den Winter 1908/09 und 1910/11 anbot, sind die Vorlesungen Arneths wohl nicht nur im kolonialen Kontext zu sehen, sondern stehen auch für die Bestrebungen zur nationalen Gesundheitsvorsorge und Hygiene.

    Ferdinand, Ursula. Die Medizinische Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster von der Gründung bis 1939. In: Thamer et al. Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 5) 2012. S. 413-530.

  • Geschichte/Philosophie

    Die historischen Disziplinen beteiligen sich erst nachdem zum Winter 1917/18, als die Überschrift in „Vorlesungen über Auslandskunde“ geändert wurde, in größerem Umfang an dieser interdisziplinären Rubrik im Vorlesungsverzeichnis. Unter der Überschrift „Kolonialwissenschaften“ finden sich lediglich die Vorlesung „Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, mit besonderer Berücksichtigung kolonialer Bestrebungen“ des Historikers Aloys Meister im Sommer 1908 wird, der im selben Jahr noch zum ordentlichen Professor ernannt wurde, und im Winter 1914/15 die Vorlesung „Die englische Kolonialpolitik vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ des international vernetzten Historikers Ernst Daenell.

  • Biologie

    Dass sich bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wissenschaftler der Universität Münster mit kolonialen Themen beschäftigen ist auch ohne Blick in die Vorlesungsverzeichnisse feststellbar: Im Botanischen Garten wird auf Initiative des wissenschaftlichen Gartendirektors Theodor Nitschke 1878 das Neue Palmenhaus errichtet, das wohl einen Vorgängerbau gleichen Namens ersetzt. Da die Eisenkonstruktion dem Zahn der Zeit nicht gewachsen war, wurde 1935 das heutige Palmenhaus erreichtet. Seit 1878 beantworten die im Palmenhaus gesammelten Pflanzen nicht nur das steigende Interesse der münsterschen Stadtbevölkerung an exotischen Pflanzen, sondern waren sicher auch Thema in der botanischen Lehre. In der Zoologie ist der Bezug zu kolonialen Themen nicht ganz so direkt: der umtriebige Hermann Landois war seit 1873 Professor an Akademie Münster, zwei Jahre später wurde unter seiner Leitung der Zoologische Garten Münster eröffnet, wo nicht nur exotische Tiere präsentiert wurden, sondern ab 1879 auch Menschen fremder Kulturen in sogenannte Völkerschauen. Das wissenschaftliche Interesse an diesen inszenierten Zuschaustellungen war vermutlich gering, denn sie waren - damaligen Wanderzirkussen ähnlich - auf die Sensationslust eines breiten Publikums und finanziellen Gewinn hin orientiert. 

    Botanik:

    Im Wintersemester 1906/07 hält der frisch habilitierte Friedrich Tobler seine erste Vorlesung zur Kolonialbotanik, geöffnet für Hörer:innen aller Fakultäten. Schon der Titel „Kolonialbotanik (Produkte, Anbau und Bedeutung tropischer Nutzpflanzen mit besonderer Rücksicht auf die deutschen Kolonien)“ zeigt, dass der Fokus auf Wirtschaftlichkeit in der Kolonialbotanik liegt. Mit leicht abgewandelten Titeln wiederholt er diese Vorlesung im Winter 1907/08, im Winter 1908/09 („Kolonialbotanik, mit Lichtbildern“), im Winter 1910/11 („Tropische Nutzpflanzen mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien (Kolonialbotanik), mit Lichtbildern“), im Winter 1911/12 - inzwischen zum außerordentlichen Professor ernannt - im Winter 1911/12 („Über koloniale Nutzpflanzen, Bedeutung Gewinnung und Handel ihrer Produkte (mit Lichtbildern)“), im Winter  1913/14 (Kolonialbotanik. Exotische Nutzpflanzen, besonders der deutschen Kolonien und ihre wirtschaftliche Bedeutung) und im Winter 1915/16 (Nutzpflanzen und Kolonialwirtschaft“) gehört damit zu einem der aktivsten Lehrenden zum Thema Kolonialwissenschaften. Schon 1907 publiziert er außerdem das Überblickwerk „Koloniale Nutzpflanzen.“, das 1942 und nochmals 1945 in erweiterter Form unter gleichem Titel wieder aufgelegt wurde.

    In den Jahren 1912 und 1913 hielt sich Tobler mit seiner Frau, ebenfalls Botanikerin, während einer fast einjährigen Reise durch Afrika für sechs Monate in Deutsch-Ostafrika auf, ungefähr dem heutigen Tansania, Burundi und Ruanda entsprechend. Basisstation dieses Forschungsaufenthaltes war das deutschkoloniale „Biologisch-Landwirtschaftliche Institut Amani“ in den Usambara-Bergen im heutigen Tansania. Finanziert wurde Toblers Aufenthalt in Deutsch-Ostafrika durch ein Stipendium des Reichskolonialamtes, in dessen Auswahlgremium auch der preußische Kultusminister saß. Erklärtes und gefördertes Ziel war es, Kenntnisse über den möglichen landwirtschaftlichen Nutzen der einheimischen Vegetation für die deutsche Wirtschaft zu gewinnen. Gesammelte und präparierte Proben übermittelte Tobler an deutsche Universitäten und Institute, darunter die "Botanische Zentralstelle für die deutschen Kolonien" und das Botanische Institut in Münster.

    Die pragmatischen Zielsetzungen von Toblers kolonialbotanischer Lehre werden allein in den Veranstaltungstiteln überdeutlich,  sie stehen beispielhaft für die wirtschaftliche Orientierung der Kolonialwissenschaften im allgemeinen. Die Inwertsetzung der entdeckten oder noch zu entdeckenden Ressourcen in den besetzten Gebieten sollte verbessert werden. Tobler besaß nach eigenen Schilderungen auch gute Beziehungen zum Reichskolonialamt und zur „Botanischen Zentralstelle für die deutschen Kolonien“, das zum Botanischen Garten Berlins gehörte und Pflanzen sowie Saatgut aus den deutschen Kolonien an die vielen Botanischen Gärten im Deutschen Reich weitervermittelte. Und so überrascht es nicht, dass seine Veranstaltungstitel auch nach 1917 den kolonialen Gestus seiner Forschung dokumentieren.

    Droste, Daniel. Das Botanische Institut an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im 20. Jahrhundert. In: Thamer et al. Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 5) 2012. S. 819-846.

    Droste, Daniel. Zwischen Fortschritt und Verstrickung. Die biologischen Institute der Universität Münster 1922 bis 1962. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 6) 2012.

    Jensz., Felicity. Kolonialbotanik: Networks of collecting practices in colonial Germany. In: Locus – Tijdschrift voor Cultuurwetenschappen (Vol. 25) 2022.

    Tobler, Friedrich. Koloniale Nutzpflanzen. 1907.

    Tobler, Friedrich. Koloniale Nutzpflanzen. 1942.

    Zoologie:

    Walther Stempell, außerordentlicher Professor für Zoologie, bot von 1908 bis 1912 jeweils im Sommer eine „Zoologische Exkursionen und Demonstrationen mit gelegentlicher Erörterung kolonial-zoologischer Fragen“ an (ab 1910 gemeinsam mit dem Privatdozenten August Thienemann), die auch unter den Kolonialwissenschaften gelistet wurde. Stempells zu dieser Zeit wiederholt stattfindende Spezialvorlesung „Die tierischen Parasiten des Menschen mit besonderer Berücksichtigung der Erreger kolonialer Krankheiten (für Mediziner)“ war im Wintersemester 1910/11 mit 60 Hörer:innen die am zweitbesten besuchte Vorlesung des anatomisch-zoologischen Instituts. Noch größere Anziehungskraft hatte nur Stempells für Hörer:innen aller Fakultäten geöffnete Vorlesung „Moderne Abstammungslehre des Menschen“. Wie das 1910 publizierte Manuskript eines Vortrags zum gleichen Thema im Westfälischen Provinzialverein nahelegt, präsentierte Stempell seinen 250 Hörer:innen unter anderem neue Ergebnisse der kraniologischen Forschung, die versuchte durch die Vermessung von Menschenschädeln Erkenntnisse über verschiedenen Menschenrassen zu gewinnen.

    Droste, Daniel. Das Zoologische Institut an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im 20. Jahrhundert. In: Thamer et al. Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 5) 2012. S. 787-818.

    Festschrift zur 84. Versammlung Deutscher Naturwissenschaftler und Ärzte. 1912.

    Günter, Ralf. Ein Spielplatz für Münster. Der Zoo als Bühne und Veranstaltungsort. In: Zoo-Verein Münster (Hg.). Von Landois zum Allwetterzoo. 125 Jahre Zoo in Münster. 2000. S. 105-162.

    Stempell. Die Abstammungslehre und der Mensch. 1910.

  • Geowissenschaften

    Die Geowissenschaften waren mit verschiedenen Teildisziplinen an den Kolonialwissenschaften beteiligt und fallen daher durch die große Zahl von Veranstaltungen mit Kolonialbezug auf.

    Unter dem Titel „Geographie der Südkontinente, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien“ hielt Wilhelm Meinhardus, innovativer Meteorologe und seit 1906 außerordentlicher, ab 1909 ordentlicher Professor der Erdkunde in Münster, im Sommer 1908 seine erste kolonialwissenschaftliche Vorlesung. Es folgen im Sommer 1909 „Wirtschaftsgeographie mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien“, im Sommer 1910 „Afrika, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien“ und im Winter 1911/12 als letzte kolonialwissenschaftliche Vorlesung „Geographie der Südkontinente, mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Kolonien“. Diese Veranstaltungen fanden eher unregelmäßig, dafür aber mehrmals wöchentlich und vormittags statt, woraus die allgemeine Absicht der „Kolonialwissenschaften“ abgeleitet werden kann, die kolonialen Lehrinhalte möglichst vielen Hörer*innen zugänglich zu machen.

    Als Vorsitzender der münsterschen Ortsgruppe der Deutschen Kolonialgesellschaft ist Meinhardus für die Kolonialgeschichte Münsters von besonderer Bedeutung und hatte während des ersten Weltkrieges diverse Offiziersämter inne. 1910 wurde Meinhardus zum ordentlichen Professor ernannt. 1920 verließ er die Universität Münster und wurde als Leiter des Geographischen Instituts der Georg-August-Universität in Göttingen der Nachfolger des Kolonialgeographen Prof. Hermann Wagner.

    Die Geologie spielte für koloniale Inbesitznahme durch Europäer*innen eine zentrale Rolle, da ihre Forschungsergebnisse die Grundlage für die Ausbeutung von Bodenschätzen in den Kolonien oder „Schutzgebieten“ bildete. Der Privatdozent Theodor Wegener hielt von 1908/09 bis 1914/15 jeweils im Wintersemester eine Vorlesung unter dem pragmatischen Titel „Die Geologie der Kolonien“. Ob seine unter der Rubrik „Auslandswissenschaften“ 1919/20 angekündigte Vorlesung „Die Bodenschätze der Erde. Ihre Geologie und ihre Bedeutung für die Weltwirtschaft“, eine Wiederholung dieser kolonialwissenschaftlichen Vorlesung in neuem Gewand darstellt, ist zu prüfen.

    Eine Veranstaltung zu „Grundlagen der Landesaufnahme, mit Einschluß der Arbeiten in den Kolonien (mit Lichtbildern)“ bot der Regierungslandmesser Georg Schewior in den Wintersemestern 1912/13, 1914/15 und 1916/17 an. 1911 beteiligte sich der Astronom Joseph Plassmann mit einer Vorlesung zur Zeit- und Ortsbestimmung „mit besonderer Rücksicht auf die Kolonien“ an den Kolonialwissenschaften.

    In der geographischen Lehre in Münster waren die deutschen Kolonien aber bereits lange vor der Einführung der „Kolonialwissenschaft“ Thema. Neben regelmäßigen Vorlesungen zur „Völkerkunde“ bot der Richard Lehmann, Professor der Erdkunde, bereits seit 1899 regelmäßig Veranstaltungen zur „Geographie der Schutzgebiete des deutschen Reiches“, zur Geographie des „Welthandels und Weltverkehrs“ sowie zu den Geographien von Afrika, Australien, Polynesien und von Osteuropa an.  Lehmann war eine zentrale Person im Prozess der Wiedererhebung und Namensverleihung der Westfälischen Wilhelms-Universität in den Jahren 1902 und 1907. Er war außerdem Mitglied der Ortsgruppe Münster des deutschen Flottenvereins, Mitglied der Ortsgruppe Münster der Deutschen Kolonialgesellschaft sowie förderndes Mitglied der SS. Als Begründer der geographischen Lehre in Münster versuchte Lehmann über seine wissenschaftlichen Netzwerke stets den Einfluss des Faches Geographie auszubauen: In Münster war die Geographie lange Zeit auf die Ausbildung von Lehrkräften für das Fach Erdkunde beschränkt. Durch die sogenannte „Länderkunde“, damals ein neuer Ansatz zur Untersuchung zusammenhängender Landschafts- und Lebensräume, versuchten viele deutsche Geograph*innen und vor allem Lehmann das Fach in den Dienst eines deutschnationalen, alldeutschen und kolonialistischen Weltbildes zu stellen. Damit sollte die Notwendigkeit der Geographie anhand des Nutzens für nationalpolitische Bestrebungen betont und die Geographie als eigene Wissenschaftsdisziplin an den deutschen Hochschulen legitimiert werden.

    Die weitere Geschichte des Geographischen Instituts führt die/eine koloniale Orientierung der Lehre und Forschung fort. Der Nachfolger von Meinardus, Ludwig Mecking, war ebenfalls in der münsterschen Ortsgruppe der Deutschen Kolonialgesellschaft engagiert, zeitweise sogar als Vorsitzender. 1935 wechselte er zur Universität Hamburg, in die unter anderem auch das ehemaligen hamburgischen Kolonialinstitut eingegangen war. Dort versuchte er einen kolonialgeographischen Schwerpunkt in der Forschung zu schaffen und unternahm als Kolonialgeograph zahlreiche Auslandsreisen für das NS-Regime. Die Nachfolge Meckings in Münster trat 1936 Hans Dörries an, der in Göttingen auch bei Wilhelm Meinhardus studiert hatte. Dörries engagierte sich stark in der Raumforschung, die vom NS-Regime gefördert wurde, um die Siedlungspläne des Regimes wissenschaftlich zu legitimieren.

    Baas, Kathrin. „Erdkunde als politische Angelegenheit“. Geographische Forschung und Lehre an der Universität Münster 1909 -1958. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 8) 2015.

    Baas, Kathrin. Geographie an der Universität Münster 1918 bis 1950. Akademische Karrieren zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung. In: Thamer et al. Die Universität Münster im Nationalsozialismus. Kontinuitäten und Brüche zwischen 1920 und 1960. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 5) 2012. S. 871-902.

    Haunfelder, Bernd. Die Rektoren, Kuratoren und Kanzler der Universität Münster 1826-2016. (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster, Bd. 14) 2020.

    Schwabe, Klaus. Ursprung und Verbreitung des alldeutschen Annexionismus in der deutschen Professorenschaft im Ersten Weltkrieg. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. (Jg. 14, H. 2). 1966. S. 105-138.

    Wardenga, Ute et al. (Hgg.). Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Geographie in Umbruchphasen. Studien zur Geschichte der Geographie. (Münstersche Geographische Arbeiten, H. 39) 1995.

    Wardenga, Ute. „Kultur“ und historische Perspektive in der Geographie. In: Geographische Zeitschrift (Geographie und Geschichte, Bd. 93, H. 1) 2005. S. 17-32.