„EU-Pathos ist vielen Briten fremd“

Am 23. Juni stimmt Großbritannien über den Austritt aus der EU ab. Dr. André Krischer spricht in einem Gastbeitrag über die Geschichte eines Missverständnisses

Polling Station Brexit
Eingang zu einem Wahllokal am Morgen des "Brexit"-Referendums
© wikimedia/LavaBaron

Der Gastbeitrag ist in der Mai-Ausgabe der Unizeitung „wissen|leben“ erschienen.

Bei seinem Großbritannien-Besuch Ende April machte es US-Präsident Barack Obama deutlich: Der Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU sei im Interesse der Vereinigten Staaten. Außerdem könne London nicht auf rasche bilaterale Handelsabkommen hoffen. Eine ähnliche Botschaft hatte 1960 auch Präsident Kennedy für die Briten: Die globale Geltung Großbritanniens profitiere von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

Mit der Auflösung des Empire, der Orientierung afrikanischer Commonwealth-Länder an den „blockfreien Staaten“ und Australiens beziehungsweise Kanadas an den USA schien die britische Zukunft tatsächlich in Europa zu liegen. Doch von Anfang an handelte es sich dabei nicht um eine Liebesbeziehung: Verhinderte in den 1960er Jahren der französische Präsident de Gaulle eine Aufnahme der Briten in die EWG, weil er fürchtete, Frankreich könne an Einfluss verlieren, so folgte auch auf den Beitritt im Jahr 1973 sofort die große Ernüchterung. Die Labour-Partei hatte im Wahlkampf die Beitrittsverhandlungen des konservativen Premierministers Edward Heath kritisiert.

Schon damals ging es um die Netto-Beiträge des Landes zum gemeinsamen Haushalt. Nachdem Labour 1974 die Wahl gewonnen hatte, verhandelte Premierminister Harold Wilson in Brüssel nach und legte die Ergebnisse 1975 dem Volk zur Abstimmung vor: 67 Prozent der Briten stimmten allerdings für den Verbleib in einem Europa, das vor allem als Wirtschaftsgemeinschaft verstanden wurde. Im politischen Diskurs ist es bis heute üblich, die EU vor allem als Freihandelszone zu definieren, als single market.

Die von den sechs Gründern der Europäischen Gemeinschaft (Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten) angestrebten politischen Integrationen waren und blieben den Briten suspekt. Sie galten als nicht hinnehmbare Einschränkung ihrer Souveränität. Dass die Kontinental-Europäer die EG und später die EU als eine historische Leistung bewerteten, die eine Epoche des Friedens nach Jahrhunderten der Kriege und Krisen gewährleistete, wurde zwar auch in London verstanden. Doch man definierte sich selbst nicht als Teil dieses historischen Projekts, so wie auch jedes EU-Pathos vielen Briten fremd ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ganz falsch, die Geschichte der britischen Mitgliedschaft in EG und EU als Geschichte eines Missverständnisses zu deuten, mit Konjunkturen des Konflikts und krisenhaften Zuspitzungen, die am 23. Juni dieses Jahres sogar zum Austritt des Landes aus der Union führen könnten.

Viele Briten empfinden eine „ever closer union“ als Drohung

Vom Beitritt 1973 bis zum Ende der Regierungszeit Margaret Thatchers wurde über die Mitgliedschaftsbedingungen und vor allem die Beiträge des Vereinigten Königreichs gestritten. Den größten Erfolg erzielte Thatcher dabei mit den 1984 vereinbarten „Briten-Rabatten“. Zwar galt ihr Nachfolger John Major (1990–97) als gemäßigter Pro-Europäer, der den Maastricht-Vertrag mit ausgehandelt hatte. Doch von den darin beschlossenen Maßnahmen zur weitergehenden Integration und zur Schaffung einer Gemeinschaftswährung wollte man in London nichts wissen. Die (schon ältere) Devise einer „ever closer union“ wurde zunehmend als Drohung empfunden.

Die wachsenden antieuropäischen Ressentiments erhielten mit der 1993 gegründeten UK Independence Party (UKIP) eine Plattform, die in den Wahlen zum Europaparlament (aber nicht bei nationalen Wahlen) immer stärker wurde und 2014 mit 27,5 % siegte. Der rasante Aufstieg der UKIP nötigte Premierminister David Cameron 2013 dazu, das nun stattfindende Referendum anzusetzen.

Als Befürworter des „Brexits“ treten aber nicht mehr nur UKIP-Politiker wie Nigel Farage in Erscheinung, sondern auch Mitglieder der konservativen und der Labour-Partei. Aus ihrer Sicht soll man die EU verlassen, weil sie undemokratisch und überbürokratisiert ist oder weil das Vereinigte Königreich ohne die Brüsseler Vorgaben in der Welt politisch und wirtschaftlich besser dasteht. Dieses Argument scheint seit Obamas Intervention zumindest fraglich zu sein. Das eigentliche Zugpferd der Brexit-Kampagne ist aber ohnehin der Kampf gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die angebliche Erosion der nationalen Grenzen.

Die rechts-gerichtete Regenbogen-Presse (Daily Mail, Sun) tut sich dabei immer wieder mit haltlosen Berichten hervor, zuletzt etwa über 88 Millionen Menschen aus der Türkei, Albanien und Serbien, die nur darauf warteten, in Großbritannien einzufallen. Man kann darin die traditionelle britische Angst vor Invasionen sehen. So wie man sich zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert vor spanischen und französischen Invasoren fürchtete, so sind seit der EU-Erweiterung von 2004 die Osteuropäer zum Chiffre für den vermeintlichen migrationspolitischen Kontrollverlust geworden.

Bevor man daraus aber eine insulare und isolationistische Mentalität ableitet, muss man sich vor Augen halten, dass die PR-erfahrenen Brexit-Anhänger nicht die Briten sind: Sie liegen derzeit mit dem (in sich sehr differenzierten) Pro-EU-Lager Kopf an Kopf. Nicht nur sind die Schotten und Nordiren mehrheitlich für einen Verbleib. Besonders viele Anhänger hat die EU auch bei den Unter-50-jährigen, bei Unternehmern, Wissenschaftlern und Kulturschaffenden. Wer für den Brexit stimmt, ist nicht unbedingt gegen Europa. Ein solches Votum ist auch als diffuser Protest gegen „das Establishment“ und den politischen „Mainstream“ zu verstehen.

Die Anti-EU-Kampagne gehört damit zu den populistischen Bewegungen in der westlichen Welt, die derzeit Konjunktur haben. Die Verantwortlichen der Pro-EU-Kampagne weisen immer wieder darauf hin, dass kein demokratischer Politiker in der ganzen Welt den Austritt begrüßen würde, dafür aber Marine Le Pen und Wladimir Putin. Ob das den Wählern in einem Land mit den ältesten demokratisch-parlamentarischen Traditionen zu denken gibt, bleibt abzuwarten.
Dr. André Krischer leitet die „Arbeitsstelle für die Geschichte Großbritanniens und des Commonwealth“ am Historischen Seminar der WWU. Am SFB 1150 leitet er die Teilprojekte B05 „Politisches Entscheiden über Sicherheit im britischen Parlamentarismus (16.-19. Jahrhundert)“ und C04 „Entscheiden im frühmodernen Gerichtsverfahren: Ein deutsch-englischer Vergleich, 16.-19. Jahrhundert“.

Hintergrund: EU-Austritt

Gemäß dem mit dem Vertrag von Lissabon geschaffenen Art. 50 Abs. 1 EUV (Vertrag über die Europäische Union) kann jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten. Sollte die Mehrheit der Briten tatsächlich für einen Austritt stimmen („Brexit“ = Britain + exit), würde die Union mit Großbritannien ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aushandeln.
Experten gehen davon aus, dass es einer Übergangsphase von mindestens zwei Jahren bedürfte, um den „Brexit“ in die Tat umzusetzen.

Quelle: „wissen|leben“, Nr. 3, 18. Mai 2016