(C18) Eine „grüne Gefahr“? Der koloniale Anti-Islam und seine integrativen Folgen für die deutsche Gesellschaft

Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts war das Denken deutscher Missionare von den Fronten des Kulturkampfes bestimmt: gegenseitig pflegten sich Katholiken und Protestanten vorzuwerfen, einer „Verheidnischung“ des christlichen Glaubens zuzuarbeiten. Doch seit 1900 wurden die Missionare, Missionswissenschaftler und christlichen Politiker aller Konfessionen eines neuen, noch bedrohlicher wirkenden Konkurrenten gewahr: des Islam, der seit Anbruch des 20. Jahrhunderts in weiten Teilen Afrikas und Südostasiens einen enormen Zulauf erlebte. Trotz eines nur geringen Anteils in den deutschen Kolonien (in Deutsch-Ostafrika gerade einmal 4 Prozent) war die Furcht der Missionare vor einer schleichenden Islamisierung vor allem Ostafrikas nicht völlig unbegründet. Denn die deutsche Kolonialverwaltung war hier geradezu angewiesen auf die Integration und die Kollaboration muslimischer Eliten, um ihre Macht zu stabilisieren. Ohne afrikanische Lehrer, Soldaten und Verwaltungskräfte sah sie sich außerstande, die Kolonien zu durchdringen und zu regieren. Man brauchte afrikanische Fachkräfte – und diese waren zumeist muslimischen Glaubens. Es handelte sich dabei in der Regel um die in den Küstengebieten lebenden Afrikaner, deren Vorfahren schon vor der Kolonialisierung zum islamischen Glauben übergetreten waren und die jetzt auch im Inneren des Landes eingesetzt wurden. Die Verwaltung ging sogar dazu über, diese Gruppe zu fördern und deren Qualifikation durch eine bessere Ausbildung zu gewährleisten. Diese Personalpolitik hatte weitreichende Folgen. Denn sie machte den Islam auch für jene Afrikaner attraktiv, die bislang einem ‚paganen‘ Glauben angehangen hatten. Natürlich betrachteten die um ihren Einfluß auf die „Eingeborenen“ bangenden Missionare diesen Prozeß mit Argwohn. Nicht zu Unrecht befürchteten sie, die Islamisierung Ostafrikas könne die Christianisierung schon bald in den Schatten stellen.

Diese neuartige Rivalität zwischen den Glaubensgemeinschaften wirft die Frage auf, wie die Priester, die Missionare, die Missionswissenschaftler und die christlichen Politiker aller Konfessionen darauf reagierten. Um diese Frage zu beantworten, soll in einem ersten Schritt das personal-, schul- und sprachpolitische Handeln der am Konflikt Beteiligten betrachtet werden: Welche Maßnahmen ergriffen die Interaktionspartner, um ihre Interessen durchzusetzen? In einem zweiten Schritt sollen die in Deutsch-Ostafrika und im deutschen Reich geführten Debatten untersucht werden: Welcher argumentativen Strategien bedienten sie sich? Bildete sich ein Anti-Islam heraus? Vollzog sich eine Verschiebung innerhalb der Argumentation: von einer religiösen und moralischen Ebene auf eine politische (Vorwurf des Dschihadismus)? Verdichteten sich sprachliche, religiöse und ethnische Vorstellungen zu einem spezifischen Rassismus? Und gab es Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten im Umgang mit ‚Heiden‘ und Muslimen?

In einem dritten Schritt wird nach den integrativen Funktionen des Anti-Islam und die Herausbildung eines überkonfessionell-christlichen Kulturraumes gefragt. Zum einen geht es um die innerkoloniale Situation: Wie wirkte sich die neue interreligiöse Konkurrenz auf die alte interkonfessionelle Rivalität aus? Zum anderen wird nach der Bedeutung der Debatte für die deutsche Gesellschaft gefragt: Gibt es Anzeichen dafür, daß der katholische und protestantische Anti-Islam auf Kosten einer außerhalb des Reiches lebenden Minderheit zu einer Integration der trikonfessionellen Reichsgesellschaft beitrug? Begannen sich zumindest die Spitzen der im Verlauf des 19. Jahrhunderts zusehends einander entfremdeten Anhänger beider Konfessionen unter dem Eindruck eines nichtchristlichen Konkurrenzdrucks fester zusammenzuschließen?

In diesem Zusammenhang soll auch ein internationaler Vergleich gezogen werden: Wie hoch sind die Parallelen zu antiislamischer Propaganda in den Gesellschaften der anderen Kolonialmächte zu veranschlagen? Und welche Funktionen vermochte die Islamfeindschaft mit Blick auf eine Stabilisierung der englischen, französischen oder niederländischen Gesellschaft zu erfüllen? In einem vierten Schritt wird nach den etwaigen Auswirkungen dieses Konfliktes für den deutschen und westeuropäischen Islam-Diskurs des 20. Jahrhunderts gefragt. Wenn sich seit der Jahrhundertwende ein Anti-Islam herausbildete, schöpfte dieser ausschließlich aus dem Arsenal tradi-tioneller Islamfeindschaft, oder generierte er auch neue Elemente? In welchem Zusammenhang stehen die sich um die Jahrhundertwende herausbildenden diskursiven Strategien zum Anti-Islam des Mittelalters und der Frühen Neuzeit? Und in welchem Verhältnis steht er zu dem islamkritischen Bild unserer Tage?