(A9) Der Dekalog als religiöser, ethischer und politischer Basis-Text

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Lucas Cranach der Ältere: Die Zehn Gebote
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Die Sichtung der frühjüdischen Quellen und der hierzu erarbeitete Befund zu intertextuellen Bezügen auf den Dekalog widerlegt eindrucksvoll die in der Forschung geläufige These vom „Dekalogschweigen“ in der Literatur des Zweiten Tempels. In aller Deutlichkeit zeigt sich, dass der Dekalog zum kollektiven Traditionsgut der Juden in der betreffenden Zeit gehörte.

Für Philo, der sich intensiv mit dem Dekalog beschäftigt hat, ist der Dekalog Ausdruck des „natürlichen Gesetzes“ und damit eine Norm mit universalem Anspruch, die alles Politisch-Institutionelle übersteigt. Auch bei den meisten anderen frühjüdischen Autoren erscheinen Dekalogsätze als Inbegriff eines universal gültigen Ethos.

Eine Untersuchung der frühen Jesus-Überlieferung zeigt Bezugnahmen auf den Dekalog, ohne dass der Toradiskurs Jesu nach den Quellen auf die Zehn Gebote beschränkt wäre. Andererseits ist auch nicht feststellbar, dass die Bedeutung des Dekalogs bewusst minimiert werden soll.

Die Dekalogrezeption des Paulus ist durch die Verlagerung des theologischen und ethischen Schwerpunkts auf die Messianologie weniger profiliert als die Dekalogrezeption Philos. Bei Paulus geht diese Fokussierung mit einer gewissen Entpolitisierung einher.

Im Jakobusbrief bilden das Ehebruchs- und Tötungsverbot (Jak 2,11) den Inbegriff negativer theologischer und anthropologischer Grundhaltungen. Die positive theologische und anthropologische Grundhaltung sieht der Briefschreiber in der Liebe zu Gott (Jak 1,12; 2,5) und den Menschen (2,8).

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Rembrandt: Moses mit den Gesetzestafeln
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Überhaupt zeigt sich im Neuen Testament eine Tendenz, das sittliche Handeln durch einige wenige Grundsätze zu regeln: das Doppelgebot der Liebe sowie die sogenannte Goldene Regel.

Eine erste Untersuchung der so genannten Neutestamentlichen Apokryphen erbrachte insbesondere, dass das erste Gebot zur Diskussion fundamentaler theologischer und christologischer Fragen herangezogen wird. Darüber hinaus erscheint der Dekalog als fundamentaler Moralkodex des frühen Christentums.

In frühchristlichen Schriften des zweiten und dritten Jahrhunderts wurde der Dekalog, vor allem die zweite Tafel, in der Interaktion mit der römisch-hellenistischen Kultur der Christen eingesetzt, um ihr zu zeigen, dass ihre Moral ehrwürdig und älter als die pagane ist. Zudem wurde er als Inbegriff des Naturrechts präsentiert.

Durch die Didache, den Barnabas- und den paganen Pliniusbrief wissen wir, dass der Dekalog, zumindest die zweite Tafel, auch in christlichen Zusammenkünften eine bedeutende Rolle spielte.

In der frühen rabbinischen Literatur sehen wir zweierlei Formen der Dekalogrezeption. Auf der einen Seite wird der Dekalog als Teil des jüdischen Selbstverständnis vorausgesetzt und so ausgelegt. Auf der anderen Seite gibt es die Tendenz, die Wichtigkeit aller 613 Ge- und Verbote der Tora zu betonen, einschließlich des Dekalogs.