Das Forschungsprojekt widmet sich den Beziehungen der jüdischen Apokalyptik zu vorderorientalischen, griechischen und römischen Texten und Traditionen. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die früher gängige Deutung der Apokalyptik als antihellenistischer Widerstandsbewegung einer Differenzierung bedarf. Dies ergibt sich nicht zuletzt aus einer revidierten Chronologie apokalyptischer Schriften, der zufolge die ältesten jüdischen Apokalypsen nicht die um die Makkabäerzeit entstandenen sind, sondern das Wächterbuch und das Astronomische Buch, die spätestens ab dem 3. Jh. v. Chr. anzusetzen sind. Ferner finden sich in zahlreichen Apokalypsen Aspekte von Hybridität und Mimikry. Die frühjüdische Apokalyptik lässt sich nur durch ihre Teilhabe an den Mythen und Vorstellungen der vorderorientalischen, griechischen und römischen Traditionen verstehen, bei der sich einerseits Aneignung im Sinn kultureller Verflechtung, andererseits aber auch partikular-abgrenzende Weiterentwicklung beobachten lässt.
Das Forschungsprojekt stellt sich die Aufgabe, diese transkulturellen Verflechtungen und Entflechtungen anhand der antiken jüdischen Apokalypsen differenziert zu erfassen und zu interpretieren. Dabei sollen zum einen vergleichbare narrative und hermeneutische Motive, Strukturen und literarische Strategien, die in jüdischen Apokalypsen und in benachbarten Literaturen begegnen, systematisch erfasst und beurteilt werden. Zum andern soll geklärt werden, in welcher Weise sich die Apokalyptik selbst als ein transkulturelles Phänomen zu erkennen gibt.
Dafür werden in der ersten Projektphase nur die mit hinlänglicher Wahrscheinlichkeit als (im Grundbestand) jüdisch zu erweisenden Apokalypsen vom Beginn der jüdischen Apokalyptik um 300 v. Chr. bis zum Abschluss der großen jüdischen Apokalypsen um 150 n. Chr. berücksichtigt werden. Diese zerfallen in drei Gruppen: eine frühe Gruppe (3./2. Jh. v. Chr.) mit dem Wächterbuch (1Hen 1–36) und dem Astronomischen Buch (aramäische Fragmente zu 1Hen 72–82); eine mittlere Gruppe (2. Jh. v.–1. Jh. n. Chr.) mit Daniel 7–12, den Traumvisionen Henochs mit Tier-Apokalypse (1Hen 83–90), der Epistel Henochs mit Zehnwochen-Apokalypse (Hen 91–105), dem Jubiläenbuch, der „Geburt Noahs“ (1Hen 106–107) und der „Eschatologischen Ermahnung“ (1Hen 108) sowie Fragmenten von Apokalypsen aus Qumran und – als Nachzügler – den Gleichnisreden Henochs (1Hen 37–71); schließlich eine späte Gruppe (1.–2. Jh. n. Chr.) mit dem 4. Esrabuch, dem 2. Baruchbuch, der Apokalypse Abrahams sowie – aus der Diaspora – dem 2. Henochbuch, dem jüdischen Kern des 3. Baruchbuchs und dem Testament Abrahams. Auch die jüdischen Sibyllinen – eine Sonderform apokalyptischer Literatur aus der Diaspora – sind hier heranzuziehen (Bücher 3–5, 11, der jüdische Grundbestand von Buch 1).
Das Forschungsprojekt soll als Kooperationsprojekt mit dem Bible Department / Mandel Institute of Jewish Studies der Hebrew University of Jerusalem (Prof. Dr. Michael Segal) durchgeführt werden. In Münster werden die Apokalypsen der frühen und der späten Gruppe untersucht, in Jerusalem diejenigen der mittleren.
Das Projekt umfasst ferner eine Digital Humanities-Komponente: Zur Absicherung der textlichen Grundlage soll zunächst für eine zentrale Apokalypse eine digitale Edition erstellt werden, wobei sich aufgrund der komplexen Textüberlieferung, für die eine digitale Edition erhebliche Vorzüge bietet, sowie der Vorarbeiten des Projektleiters das 4. Esrabuch nahelegt.