Vorkehrungen und Regeln. oder: Kollektive Antworten auf Epidemien

Dossier "Epidemien. Kulturwissenschaftliche Ansichten"

© gemeinfrei; CC-BY-4.0; Hama Yalcouye

Vorkehrungen und Regeln im Zusammenhang mit der Bewältigung epidemischer Notlagen werden insbesondere dieser Tage heftig diskutiert: Die Berichterstattung zitiert Umfrage- und Zustimmungswerte zur Wahrnehmung der Angemessenheit bestimmter Maßnahmen; Alltagsmasken werden als ‚Maulkorb‘ polemisch zum Symbol obrigkeitsstaatlicher Repression erklärt; Gerichte reagieren auf Privatklagen gegen parlamentarische Beschlüsse – die Pandemie und unser Umgang mit ihr im Spannungsfeld von individuellen Rechten und kollektiven Erforderlichkeiten ist nicht nur ein sensibles Politikum, sondern berührt ebenso ethische Fragen.

Die Diskussionen um die Verhältnismäßigkeit, Effizienz und Effektivität der getroffenen Vorkehrungen und Regeln zur Eindämmung und Bewältigung der Pandemie lässt zwei Dinge sehr klar werden: Zum einen, dass individuelle – und bisweilen auch existenzielle – Bedürfnisse teilweise in diametralem Gegensatz zur kollektiven Dimension gesamt-gesellschaftlicher Notwendigkeiten stehen können. Zum Zweiten zeigt sich zugleich die unbedingte Gewissheit, dass Reaktionen, dass kollektive Antworten auf die enormen Herausforderungen, die Pandemien für Gesellschaften darstellen, notwendig sind und gefunden werden müssen.

Im aktuellen Dossier der ‚Kulturwissenschaftlichen Ansichten‘ widmen sich die beteiligten WissenschaftlerInnen gewohnt interdisziplinär und aus verschiedensten Perspektiven nicht nur den alltagspraktischen Maßnahmen und Vorkehrungen im Umgang mit Pandemien, sondern zugleich auch der Frage, welche Werte-, Norm- und Regelvorstellungen der pandemische Bewältigungsprozess berührt und offenlegt.

© gemeinfrei

Pandemien und Regelkonflikte. Von Historiker Matthias Sandberg

Die gegenwärtige Diskussion um Vorkehrungen und Regeln zur Bewältigung der durch das Corona-Virus verursachten Pandemie legt das desintegrative Potenzial von Regelkonflikten in aller Deutlichkeit offen: Dass individuelle Freiheits- und Persönlichkeitsrechte zugunsten zweckrationaler Ordnungsprozesse limitiert und dem kollektiven Wohl untergeordnet werden, wirft nicht allein brisante politische, sondern auch komplexe ethische Fragen auf. Weiterlesen

© Amsterdam, Rijksmuseum (gemeinfrei)

„… aiuti celesti e humani“: Multiple Maßnahmen zur Bekämpfung der Pest in Rom 1656/57. Von Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems

Im Frühjahr des Jahres 1656 brach die Pest in Rom aus. Die Epidemie hatte sich von Nordafrika Mitte des 17. Jahrhunderts nach Spanien und Südfrankreich ausgebreitet und bereits 1652 Sardinien erreicht, das damals zum Königreich Spanien gehörte. Trotz der Handelsbarrieren gegen die Insel wütete die Pest vier Jahre später, 1656, in Neapel, wo sie schätzungsweise 100.000 Menschen tötete, etwa ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Weiterlesen

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Durch Blindheit sehen. José Saramagos Roman Die Stadt der Blinden (1995). Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)

Saramagos bedrückender Roman mit dem portugiesischen Titel Ensaio sobre a cegueira (d.h. ,Aufsatz über die Blindheit‘) erzählt, wie sich in einer nicht namentlich genannten Stadt immer mehr Menschen mit einer rätselhaften Krankheit infizieren, die sie ganz plötzlich erblinden lässt. Dabei handelt es sich um eine besondere Blindheit, welche die Erblindeten nicht ins Dunkel führt, sondern sie mit gleißender Weißheit blendet. Weiterlesen

© CC-BY-4.0

Abstand! Distanz und Abgrenzung als Formen protektiver Raumplanung gegen Pest und Cholera in Venedig, Wien und Hamburg. Von Kunsthistoriker Prof. Dr. Jens Niebaum

Als Venedig 1423 wieder einmal von der Pest heimgesucht wurde, beschloß der Senat die Einrichtung eines neuartigen Spitals, in dem alle Infizierten aus Venedig und zugehö-rigen Inseln untergebracht und versorgt werden sollte. Als Standort wurde eine kleine Insel vor dem Lido gewählt, auf der sich das Kloster Santa Maria di Nazaret befand; aus diesem Namen entwickelte sich der Begriff ‚Lazarett‘. Weiterlesen

© Hama Yalcouye

Mali: Umstrittene Bedeutungen von „kollektivem Interesse“. Von Ethnologin Prof. Dr. Dorothea Schulz

Am 30. November druckten einige malische Zeitungen vorab die Rede, mit der sich N’Ba Daou, der Präsident der nach dem Militärputsch im August 2020 gebildeten Übergangsregierung in Mali über das nationale Fernsehen „das malische Volk“ auffordern wollte, sich an eine neu verhängte nächtliche Ausgangsperre und weitere begleitende Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie zu halten. Weiterlesen