Durch Blindheit sehen. José Saramagos Roman Die Stadt der Blinden (1995)

Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)

Pieter Breughel der Jüngere (1564-1638), Gleichnis von den Blinden.
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Saramagos bedrückender Roman mit dem portugiesischen Titel Ensaio sobre a cegueira (d.h. ,Aufsatz über die Blindheit‘) erzählt, wie sich in einer nicht namentlich genannten Stadt immer mehr Menschen mit einer rätselhaften Krankheit infizieren, die sie ganz plötzlich erblinden lässt. Dabei handelt es sich um eine besondere Blindheit, welche die Erblindeten nicht ins Dunkel führt, sondern sie mit gleißender Weißheit blendet. „Der Blinde hob die Hände vor die Augen und bewegte sie, Nichts, als wäre ich mitten in einem Nebel, als wäre ich in ein milchiges Meer gefallen. Aber Blindheit ist nicht so, sagte der andere, Blindheit, heißt es, ist doch schwarz, Aber ich sehe alles weiß […]“ (José Saramago, Die Stadt der Blinden. Roman. Deutsch von Ray-Güde Mertin, Reinbek bei Hamburg 1999, 11). Um der sich rasant verbreitenden Infektion Einhalt zu gebieten („das ist nicht wie eine Grippe“ [31]), werden die Betroffenen in eine leerstehende psychiatrische Anstalt eingewiesen. Auch diejenigen, die mit ihnen Kontakt hatten, kommen, in einem anderen Flügel des Gebäudes, in Quarantäne (zum Thema ,Quarantäne‘ vgl. den Beitrag von Pia Doering in diesem Dossier): „Die Entscheidung, an einem Ort in der Nähe, jedoch getrennt, alle betroffenen Personen zusammenzuführen, die in irgendeiner Weise mit den Erblindeten in Kontakt gestanden haben, wurde nicht ohne gründliche vorherige Überlegung getroffen“ (59). Soldaten bewachen das Gebäude und erschießen jeden, der ihnen zu nahe kommt oder gar fliehen möchte. Immer mehr Blinde werden zusammengepfercht und die ohnehin sehr eingeschränkten Verhältnisse verschlechtern sich rapide: die hygienischen Zustände sind untragbar, Lebensmittel werden knapp, rohe Gewalt beginnt zu regieren. Eine Gruppe bemächtigt sich der Lebensmittel und macht sich die anderen gefügig. Massenvergewaltigungen finden statt. Eine einzige Figur ist sehend geblieben, die Frau eines Augenarztes, die ihren erblindeten Mann nicht alleine lassen wollte und sich daher ebenfalls blind stellt. Die Erzählung ist weitgehend über sie fokalisiert, so dass wir als Leserinnen und Leser gewissermaßen über die Frau des Arztes zu Augenzeuginnen und Augenzeugen werden – im wahrsten Sinne des Wortes, denn wir können sehen und lesen. Gibt es zunächst noch Regeln und Anweisungen, die von außen kommen, bleiben diese bald aus, ebenso wie die täglichen Lebensmittelrationen. Man kann mitverfolgen, wie die Regeln der Zivilisation und des menschlichen Miteinanders zunehmend zusammenbrechen und die Menschen nurmehr auf ihr, wie es Giorgio Agamben formulieren würde, nacktes Leben zurückgeworfen sind. Der Frau des Arztes gelingt es schließlich, den Rädelsführer der Peiniger-Gruppe zu töten. In der Folge kommt es zu einem Aufruhr in der Anstalt, der in einem Brand endet. Das Feuer brennt die Anstalt nieder und die Eingesperrten kommen frei, aber nur um festzustellen, dass die Ordnung in der Welt draußen ebenfalls längst zusammengebrochen ist und es auch keine Regierung mehr zu geben scheint, die irgendetwas regeln und Maßnahmen ergreifen könnte. Blinde ziehen ziellos auf der Suche nach Lebensmitteln durch die Straßen, Tote liegen herum, der Unrat stapelt sich. Der Frau des Arztes gelingt es, durch übermenschlichen Mut und Entschlossenheit die kleine Gruppe der Erstinfizierten, die in der Anstalt im gleichen Schlafraum untergebracht waren, zusammenzuhalten, das gemeinsame Leben zu organisieren und für ein Mindestmaße an Menschlichkeit zu sorgen. Dennoch weiß man nicht, wie es weitergehen könnte, weil offensichtlich alle infiziert sind und es kein regulierendes Gemeinwesen mehr gibt. Und da, ganz plötzlich, man weiß nicht wie, wird der erste Erblindete wieder sehend, dann der zweite, die dritte... Mehr wird nicht erzählt. „Ich glaube nicht, daß wir erblindet sind“, sagt der wieder sehend gewordene Augenarzt am Ende, „ich glaube, wir sind blind, Blinde, die sehen, Blinde, die sehend nicht sehen“ (399).

Ganz offensichtlich ist die Blindheit bei Saramago eine Metapher für Erkenntnisse und Einsichten, die das menschliche Gemeinwesen regeln, ganz basal gesprochen für die Unterscheidung von ,gut‘ und ,böse‘, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Die Regeln des menschlichen Zusammenlebens brechen in der Anstalt zunehmend zusammen, die Frau des Arztes versucht, sie soweit es geht aufrechtzuerhalten. Als das Gebäude abbrennt, wird klar, dass auch die Außenwelt keine Regeln und keine Ordnung mehr kennt. Es herrscht Anomie. Konnte zu Beginn der Erzählung die Einweisung der Erblindeten in die Irrenanstalt noch als Vorkehrung einer im Roman ebenso wie die Protagonisten namenlos bleibenden Regierung gesehen werden, ist es zunehmend die Aufgabe der Eingeschlossenen selbst, sich zu organisieren. Das führt gewissermaßen in die Hölle, bis es der Frau des Arztes, die ihrerseits zur Mörderin werden muss, gelingt, das Blatt zu wenden. Aber auch nach der Befreiung gibt es kein strukturgebendes Außen mehr, niemanden, der Vorkehrungen und Maßnahmen trifft. Falls der Roman eine Botschaft hat – gute Literatur gibt keine simplen Ratschläge – richtet sich der Appell an die Einzelnen: Die Ordnung des Gemeinwesens ist nicht die Aufgabe eines anonymen Außen oder Oben, sondern muss von innen heraus erfolgen. Und es bedarf der „Verantwortung, Augen zu haben, wenn die anderen sie verloren haben“ (306).