Abstand!

Distanz und Abgrenzung als Formen protektiver Raumplanung gegen Pest und Cholera in Venedig, Wien und Hamburg

Von Kunsthistoriker Dr. Jens Niebaum

1. Grundriß des Lazzaretto vecchio in Venedig (nach: John Howard, An Account of the Principal Lazarettos in Europe, London 1789, Pl. 12)
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„pro inspiratione diuina quodammodo ordinatus“: das Lazarett in Venedig

Als Venedig 1423 wieder einmal von der Pest heimgesucht wurde, beschloß der Senat die Einrichtung eines neuartigen Spitals, in dem alle Infizierten aus Venedig und zugehörigen Inseln untergebracht und versorgt werden sollte. Als Standort wurde eine kleine Insel vor dem Lido gewählt, auf der sich das Kloster Santa Maria di Nazaret befand; aus diesem Namen entwickelte sich der Begriff ‚Lazarett‘. Zunächst nur für 20 Einzelzimmer konzipiert, ermöglichte ein Legat von 1429 die Erweiterung auf 80; um den steigenden Finanzbedarf zu decken, mußten die Notare ab 1431 jeden Testator ausdrücklich fragen, ob er dem „pro inspiratione diuina“ erbauten „locus Sanctæ Mariæ de Nazareth“ etwas hinterlassen wolle. Schon ab 1456 – in der Stadt wütete erneut eine Epidemie – wurde die Einrichtung einer eigenen Quarantäne-Station für diejenigen diskutiert, die im Lazarett von der Pest genesen waren, von denen man aber annahm, daß ihre Rückkehr ins alltägliche Leben noch eine Gefahr für die Stadt darstellte; doch erst 1468 kam es während einer weiteren Epidemie zum Bau des ‚ Neuen Lazaretts‘ auf einer eigenen Insel für diesen Zweck. Später entwickelte sich auch das alte Lazarett zunehmend zu einer Kontumaz-Station vor allem für Einreisende aus der Levante sowie für Quarantäne und ‚Desinfektion‘ von Waren aus Übersee (vgl. den Beitrag von Pia Doering).

Auch wenn das 1852-1967 als Militärgelände genutzte Lazarett erhebliche Verluste seiner Bausubstanz erlitten hat, vermitteln die überkommenen Bauten sowie zwei Grundrisse von 1789 und 1813 ein recht gutes Bild seiner baulichen Strukturen. Über Organisation und Lebensrealität im späten 18. Jahrhundert informiert überdies der Account of the Principal Lazarettos in Europe, den der englische Gefängnis- und Spitalreformer John Howard (1726-90) als Ergebnis einer Studienreise publizierte, die ihn ab 1785 – freilich lange nach den letzten großen Pestepidemien in Europa – in die bekanntesten Lazarette Frankreichs und Italiens sowie in Smyrna und Konstantinopel geführt hatte.

2. Venedig, Isola del Lazzaretto vecchio, Ansicht von Süden mit dem tezon grande in der Mitte und dem Priorat links im Mittelgrund
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Die Lazarettinsel hat die Form eines unregelmäßigen Trapezes (Abb. 1). Im Westen liegt die Kirche samt vormaliger Klausur, das als Generalato oder Fondaco ursprünglich den venezianischen Repräsentanten in Konstantinopel sowie den Generalprovveditoren und Rektoren aus der Levante vorbehalten war. Vorsteher und Vorsteherin wohnten im südwestlich anschließenden Priorat, dem gegenüber sich das eigentliche, die südliche Flanke der Insel säumende Spitalsgebäude für Pestkranke und womöglich Infizierte erstreckte; es wurde nach der großen Pestepidemie von 1630 zu einem Magazin für Warenquarantäne (tezzon vecchio) umgenutzt (Abb. 2). Nördlich entstanden im 16. Jahrhundert zwei weitere Kontumazbereiche, die Crozzola und die Contumacia al Morer, während die gesamte östliche Hälfte der Insel durch vier L-förmige Warenhäuser bebaut ist, die als nach Süden offene Trakte mit pfeilergetragenen Dächern um einen prato (Wiese) herumgebaut sind; im Osten der Insel lagen ein Pulvermagazin sowie ein kleiner Friedhof. Evident ist das Bestreben, Baulichkeiten zu entzerren, Abstände zu schaffen und einzuhalten sowie Gruppen von Menschen und Waren voneinander zu isolieren. Zwischen langgezogenen Gebäudetrakten bleiben offene, begrünte Flächen; jeder der jüngeren tezzoni im Osten besaß einen eigenen Bootsanleger: Howard (1789, 13) betont, daß „all these apartments have their separate entries and stairs, and every range of them has an open court in front”. Die Warenhäuser sind in halboffener Bauweise angelegt, um freie Luftzirkulation zu ermöglichen („that the air is not confined“).

Auch die Lebensregeln, die im Lazarett galten, waren wesentlich darauf ausgerichtet, Kontakte zwischen Gruppen, Personen und Waren zu vermeiden und die Ordnung auf der Insel aufrecht zu erhalten (im Gegensatz zu der Anstalt in Saramagos Stadt der Blinden im Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf). Trat ein Verdachtsfall auf, so mußten die Tore zur Insel versperrt bleiben; Boote durften sich ihr nicht nähern; alle Vergnügungen, bei denen sich Personen aus verschiedenen Quarantänebereichen begegnen konnten, waren zu unterbinden. Der Prior mußte bei seinen turnusmäßigen Kontrollgängen stets einen Stock mitführen, um die Internierten auf Distanz zu halten. Diese konnten ihre Verpflegung nach Wunsch zu einem Festpreis bestellen, und der Prior mußte ihre angemessene Versorgung sicherstellen. Die Lieferanten durften das Lazarett nicht betreten und mußten zur Ausgabe der Warenkörbe gut 2 m lange Stangen benutzen; ihr Geld mußte jeweils in Weinessig oder Salzwasser ‚desinfiziert‘ werden. Briefe, die im Lazarett geschrieben wurden, wurden vom Aufseher des jeweiligen Appartements eingeräuchert, mittels eines Stocks mit gespaltenem Ende an den Prior weitergereicht, von diesem erneut parfümiert und erst dann verschickt. Die hygienischen Verhältnisse in den „apartments” müssen indes desaströs gewesen sein; Howard (1789, 11) beschreibt die Wände seines Zimmers als „saturated with infection” und mutmaßte, daß sie wohl seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gereinigt worden seien.

„auß sonderbarer vätterlichen Vorsorg“: Aus- und Abgrenzung in österreichischen Pest-ordnungen, 1654 und 1679

Neben Venedig, der „Stadt im Wasser“ mit ihrem blühenden Levante-Handel, zählten Österreich und die kaiserliche Residenzstadt Wien zu den besonders von der Pest betroffenen Regionen Europas. 1654 erließ Kaiser Ferdinand III., an ältere Pestordnungen anschließend, „auß sonderbarer vätterlichen Vorsorg“ eine „Newe Infections-Ordnung“ (Wien 1654) speziell für den ländlichen Raum. Viele der hier aufgeführten Maßnahmen, aber auch Ausnahmen kommen dem pandemieerprobten Leser des Jahres 2021 mehr oder weniger bekannt vor: Einreisende aus betroffenen Gebieten mußten sich außerhalb der Landesgrenzen 40 Tage isolieren, konnten sie nicht durch Vorlage einer „glaubwürdige Urkundt“ belegen oder durch „Cörperlichen Ayd“ beschwören, „daß sie von Viertzig Tägen her an gesunden vnd vnverdächtigen Orthen gewesen“. Brach die Pest im Land selbst aus, galten entsprechende Regeln vor allem für Wien samt Vorstädten „oder andere Orth, sonderlich wo Wir oder Unsere Junge Herrschafft sich selbiger Zeit mit der Hoffstat befinden“ (6): Monarch und Thronfolger, an dem die Zukunft des habsburgischen Länderkonglomerates hing, standen also im Zentrum der Schutzmaßnahmen! Einschränkungen erfährt die Vorschrift für den Fall, daß die Lieferketten nach Wien gefährdet sind („damit gleichwol dardurch die Commercien vnd zufuhr der Victualien zu hiesiger Statt Wienn, nicht gespört [i.e. gesperrt] werde, noch destwegen ein mangel erscheine“ [7]): Dann soll sie nur für die betroffenen Häusern und nicht für die ganze Ortschaft gelten. Um auch geschäftlichen Reiseverkehr nach Wien zu ermöglichen und dennoch den nötigen Schutz zu gewährleisten, wurden mehrere Kontumaz-Orte in den niederösterreichischen Vierteln ausgewiesen, in denen sich die Reisenden für vierzig Tage isolieren sollen. Es wurde also ein regelrechter Quarantäne-Schutzbezirk definiert, der die Residenzstadt großräumig abschirmte.

Überdies sah die „Newe Infections-Ordnung“ so etwas wie Lockdown-Maßnahmen vor, die vor allem den gastronomischen Sektor und die öffentlichen Feste betrafen: Da „die Zusammenkunfften nicht wenig gefährlich seyn, als sollen die Obrigkeiten solche sovil möglich, sonderlich in denen Weinkellern, Würths: vnd Leuthgeb Heusern, einstellen“, Kirchtage, Kirchweihen und Jahrmärkte während der Infektionszeit untersagen. Dabei scheint man sich über die Grenzen der Durchsetzbarkeit keine Illusionen gemacht zu haben. Zusammenkünfte zu „ehrlichen Hochzeiten, Kindlmahl, vnd derley Ladschafften“ könnten zwar nicht gänzlich verboten werden, doch sollen sie „auffs engist“ reduziert und nur „in saubern, weiten, lüfftigen Orten vnd Zimmern“ abgehalten werden. Bei stark steigenden Todeszahlen („wann aber der Sterb vberhand nemmen wurde“), soll freilich ein verschärfter Lockdown gelten, indem „alle vnd jede Zusammenkunfften gäntzlich eingestelt, auch die Schulen vnd Bäder gespört werden“ (14).

Im Pestjahr 1679 erschien in Wien die „Pest-Ordnung, Oder der gantzen Gemein Nutzlicher Bericht vnd Gutacht“ über Ursachen der Pest und Maßnahmen gegen ihre Ausbreitung, die aus dem Nachlaß des kaiserlichen Leibarztes und Medizinprofessors Johann Wilhelm Mannagetta (1588-1666) in revidierter und erarbeiteter Form von dem Medizinprofessor und Leibarzt der Kaiserinwitwe Paul Sorbait (1624-91) herausgegeben wurde. Unter den Maßnahmen zur räumlichen Ab- und Ausgrenzung nennt sie „geschworne Spörer [i.e. Sperrer]“, die die Türen „mit einem Mail-Schloß“ verschließen, „damit die in dem Pestbefleckten Hause verblibene Persohnen nicht außgehen, oder andere Leuth erschröcken vnd anstecken“ (115). Schon die Landes-Pestordnung von 1654 hatte zudem bestimmt, betroffene Häuser mit einem Kreuz zu kennzeichnen und so symbolisch auszugrenzen. Immerhin gehörte es auch zur Aufgabe der „Spörer“, sich zu vergewissern, daß die Eingeschlossenen versorgt wurden. Deren räumliche und soziale Isolierung blieb auch im Tode bestehen, denn die Verstorbenen sollten ohne Begleitung zum Gottesacker getragen und hier „an einem absonderlichen Orth“ in besonders tiefen Gruben bestattet werden. Die Ordnung von 1679 spezifizierte, daß die Pesttoten „nicht durch die vornembste Gassen vnd Plätz, vil weniger durch die gantze Statt, sondern zu dem nechsten Statt-Thor durch die Gassen, so am wenigsten bewohnet, zur Begräbnis“ getragen und im nächstgelegenen Gottesacker „ohn alles Gassengepräng“ begraben werden sollten (113). Zumindest dieses Standesprivileg hob die Pest auf. Zudem wird an dieser und einer Reihe weiterer Maßnahmen deutlich, daß die von Stadtmauer und Burgfried markierten Grenzen genutzt wurden, um nach Möglichkeit alles als ungesund Angesehene aus der Stadt selbst abzusondern.

„Wie das Lazareth oder Pesthauß beschaffen […] seyn solle“

Die Pest-Ordnung von 1679 enthielt auch ausführliche Angaben, wie ein Lazarett beschaffen sein soll (119-122). Es ist demnach „ein gemein, vnd offentliches Hauß oder Gebäu, dahin nur allein die jenigen, welche GOTT mit der Pestilentz heimgesucht, gewisen werden“, und soll „ausser der Stadt auff dem Feld, (jedoch nicht an der Landstraß,) in welchen auff etlich Schritt keine Häuser seyn, vnd an einem lufftigen Orth, vnd nicht in einem Thal, doch wo müglich an einen fliessenden Wasser gebauet seyn.“ Die Fenster sollen „von der Stadt abgewendet seyn (damit die Inwohner deß vergifften bösen Luffts nicht theilhafftig werden)“ und möglichst nur nach Norden und Osten weisen; ein Garten soll mobilen Insassen zur Erfrischung dienen. Die Anlage soll in mindestens „drey gantz abgesönderte Theil“ geteilt sein: Der erste soll „die an der Pestligende“ in „etlich vnterschiedliche Zimmer, Stuben, Kammer, vnd Abtritt“ aufnehmen, nach Geschlechtern getrennt und mit besonderen „Gemäch“ für Vermögende, die ihren Unterhalt selbst bestreiten; ein zweiter Abschnitt soll den Gesundeten bzw. auf dem Weg der Besserung Befindlichen („so mehrern theils davon schon entlediget“) vorbehalten sein, ein dritter den Beamten sowie den Verdachtsfällen. Droht Überbelegung, sollen provisorische Hütten errichtet werden. Das Personal umfaßt u.a. einen „erbahren, andächtigen Priester“ für die geistliche Versorgung der Internierten sowie einen „verpflicht, vnd geschwornen, doch mitleidigen Lazareth-Vatter, und Vorsteher“, ferner einen Wundarzt, Einkäufer, Türwächter u.a.m. Infizierte sollten „durch den hierzu bestellten Fuhrman in den bedeckten Wagen, in das Lazareth oder Pesthauß“ gebracht werden; wer sich weigert, soll mindestens ein Meile außerhalb der Stadt gebracht oder „mit Gewalt“ ins Pesthaus überstellt werden.

3. Wien, Burgfriedensgrenze in Währing, Döbling, Spittelau mit Darstellung der Vorstädte Alservorstadt und Rossau sowie des Arbesbaches bei Döbling, 1670 (Pause Emil Hüt-ter 1873), Wien, Wiener Stadt- und Landesarchiv, 3.2.1.1.P1.4, Ausschnitt, darin Nr. 1: Festung Wien, Nr. 6: Kontumazhof, Nr. 7: Lazarett
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Das Wiener Lazarett war 1540-42 errichtet worden und befand sich im heutigen 9. Wiener Gemeindebezirk an der Stelle des heutigen Arne-Carlsson-Parks. Rund 900 m vor der Wiener Bastion am Flüßchen Als gelegen, entsprach es durchaus den äußeren Rahmenbedingungen, wie sie die Pestordnung von 1679 formulieren sollte (Abb. 3, Nr. 7). Die bauliche Erscheinung ist nur in Umrissen bekannt, da das Lazarett 1766 zum Soldatenspital umfunktioniert und 1857 abgerissen wurde. Nach zwei Erweiterungen umfaßte die Anlage zwei rechtwinklig zueinander gelegene Flügel mit fünf Männer- zu je 16 bis 23 und vier Frauenzimmern zu je 14 bzw. 17 Betten, ferner vier ‚Meliorations-Zimmer‘ mit insgesamt 73 Betten; zugehörig war ferner eine alte, St. Johann geweihte Kapelle. 1657 wurde etwas näher zur Stadt ein Kontumazhof (Abb. 3, Nr. 6) eingerichtet, eine Art ‚Abklingstation‘ für Genesene und solche, die mit Infizierten Kontakt hatten, bevor sie nach vierzig Tagen in die Stadt zurückkehren durften. Seine Funktion entsprach mithin derjenigen des Lazzaretto nuovo in Venedig.

„Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin“: die Cholera in Hamburg, 1892

Die bisher beschriebenen Maßnahmen hatten zum großen Teil ephemeren Zuschnitt: Sie gelangten erst im Verdachtsfall oder nach dem Ausbruch einer Epidemie zur Anwendung und schufen temporären Abstände zwischen Infizierten und Gesunden, aber kaum dauerhafte Strukturen. Das änderte sich erst im Zuge des dramatischen Bevölkerungszuwachses der europäischen Großstädte im Laufe des 19. Jahrhunderts, der für die ärmeren Bevölkerungsschichten oftmals katastrophale Wohnverhältnisse zur Folge hatte. Nachdem die Pest seit einer letzten, zwischen 1709 und 1720 verschiedene Teile Europas heimsuchenden Welle nicht mehr in größerem Maßstab aufgetreten war, war es seit etwa 1830 die Cholera, die besonders in den strukturell überforderten Großstädten einen idealen Nährboden fand und der mit den Maßnahmen des 17. Jahrhunderts nicht mehr beizukommen war.
Mitte August 1892 brach in Hamburg eine verheerende Cholera-Epidemie aus, der in knapp drei Monaten mehr als 8.500 Menschen zum Opfer fielen. Schnell wurde deutlich, daß den Wohnverhältnissen in der Stadt nicht nur bei der hohen Sterblichkeit an sich, sondern auch bei ihrer sehr ungleichen Verteilung eine Schlüsselrolle zukam: Denn es vor allem dort, wo die Menschen besonders beengt wohnten, hatte die Epidemie den höchsten Tribut gefordert, und dies hatte vor allem jene Stadtviertel betroffen, in denen die ärmsten Bevölkerungsschichten in oftmals unsanierter Altbausubstanz hausten. Robert Koch, der als offizieller Vertreter des Reichskanzlers die Zustände in Hamburg inspizierte, bemerkte voller Entsetzen über die angetroffenen Verhältnisse: „Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin.“

Wie vor allem die Historiker Clemens Wischermann und Richard J. Evans herausgearbeitet haben, waren es zwei Gegenstandsbereiche, die in den folgenden Jahren ins Zentrum legislatorischer Maßnahmen rückten: die Sanierung als ungesund eingestufter Stadtviertel, vor allem der hafennahen Innenstadt, sowie die nachhaltige Verbesserung der Wohnverhältnisse. Fragen des Abstands und der Gewinnung von Raum spielten dabei eine zentrale Rolle. Freilich kam es immer wieder zu Verzögerungen, vor allem durch den hartnäckigen Widerstand der Grund- und Wohnungsbesitzer, die möglichst wenige Einschränkungen hinnehmen wollten. Das änderte sich erst mit dem Hafenarbeiterstreik, der 1896 die erbärmlichen Lebensbedingungen der unteren Schichten erneut in den Fokus rückte. Nach mehreren Anläufen kam es 1907 endlich zu einem Wohnungspflegegesetz, das präzisen Grenzen die Belegung von Wohnungen definierte und insbesondere die Versorgung mit Toiletten regelte. So wurden für eine Wohnung Mindestwerte an Luftraum festgelegt: Ein Kind erhielt 7,5 m3, ein Erwachsener 15 m3 Mindestluftraum zugewiesen. Rechnet man diese Werte auf die heutige Mindestwohnraumhöhe von 2,40 m um, so bleibt eine Grundfläche von 3,125 m2 pro Kind und 6,25 m2 pro Erwachsenem – die Haus- und Grundbesitzer hatten 1898 bereits Werte von 2 bzw. 4 m2 bekämpft, nach denen etwa eine vierköpfige Familie sich mit 12 m2 Wohnfläche hätte begnügen müssen! Fortan durften sich maximal 12 Personen oder zwei Familien eine Toilette teilen – vor 1892 mußten mehrgeschossige Häuser teils mit einer einzigen Toilette im Hof auskommen.

Bei der Sanierung rückten vor allem die hafennahen sog. Gängeviertel in den Fokus, jene extrem dicht bebauten, vielfach nur durch enge Gänge erschlossenen Wohnquartiere, die Koch besonders schockiert hatten (https://www.hamburg.de/geschichte/4643766/gaengeviertel-hamburg/#detailLayer). Noch im November 1892 erhoben sich Forderungen nach ihrem Abbruch zugunsten breiter Straßen und gesunder Wohnungen, und zu Beginn bestand auch die Absicht, diese den bisherigen Bewohnern zuzuweisen. Der Hafenarbeiterstreik verschob jedoch die Perspektiven: Die „luft-, licht- und liebeleeren Gängeviertel“, so der Hamburgische Correspondent, wurden nun zu Brutstätten von Kriminalität und Brutalität umgedeutet, die man den dort Lebenden zuschrieb; und die mit ihnen assoziierte Gefahr für die Gesundheit wurde entsprechend einer traditionsreichen Metaphorik nun mit der Gefahr für die soziopolitische Ordnung der Stadt in Parallele gesetzt. Letztlich fielen die Mieten in den neu errichteten Wohnungen der Sanierungsviertel so hoch aus, daß etwa in der südlichen Neustadt keine der vormals dort wohnhaften Familien wieder in das Viertel zurückkehren konnte. Die meisten mußten sich in den modernen Etagenhäusern eine neue Bleibe suchen, die nun aus dem Boden gestampft wurden: Sie boten zwar mehr Licht und mehr Raum und damit gesundere Lebensbedingungen, doch war dies mit weiten Wegen zu Arbeit – auf die mit dem Bau der Hochbahn reagiert wurde – sowie mit dem Verlust von Heimat und gewohnter Umgebung erkauft. Davon waren teils auch die Villenviertel des Großbürgertums betroffen – das seinerseits in entlegenere Vororte auswich. Die Cholera-Epidemie und ihre Folgen – sie prägten die Raumordnung der Stadt weit über die ursprünglich beabsichtigten Schutzmaßnahmen hinaus.