Gottesstrafe als Umschlagmoment: Venedig und die Pestepidemie von 1575-77

Von Kunsthistoriker Dr. Jens Niebaum

Ponton-Brücke von den Zattere zur Chiesa del Redentore beim alljährlichen Redentore-Fest zur Erinnerung an die Pestepidemie von 1575-77.
© Roger Howard (CC BY-SA 2.5)

Während sich in Zeiten moderner Infektionsbiologie Ausbruch und Verbreitung von Epidemien naturwissenschaftlich erklären lassen, galten solche Ereignisse jahrtausendelang als von Gott gesandte Bestrafung der sündigen Menschheit. Entsprechend hatte ein wesentlicher Teil der Gegenmaßnahmen die Besänftigung der erzürnten Gottheit zum Ziel – durch kollektive Gebete, Prozessionen sowie durch Gelübde: Wenn Gott die Strafe von dem betroffenen Gemeinwesen nahm, so wurde ihm eine besondere Sühneleistung versprochen – Votivmessen, der Bau eines Altars oder Denkmals oder gleich die Errichtung einer ganzen Kirche. Ein berühmtes Beispiel ist die verheerende Pestepidemie von 1575-77 in Venedig, der bis zu 400 Menschen am Tag zum Opfer fielen. Am 8. September 1576 gelobte der Doge, das Oberhaupt der Republik, den Bau einer dem Erlöser geweihten Kirche – der späteren berühmten Redentore-Kirche Palladios – sowie die alljährliche Abhaltung einer Prozession am Jahrestag der Befreiung von der Seuche, „zum ewigen Gedächtnis der empfangenen Wohltat“.

Paradigmatisch läßt sich an diesem Gelübde die vielfache Aktivierung von Zeit als strukturierender Instanz beobachten. Der Text selbst wies weit in die Vergangenheit zurück, indem er den Dogen mit dem König David parallelisierte, der Gottes Zorn mit der Errichtung eines Altars an dem Ort besänftigt hatte, an dem später sein Salomon den Tempel errichten sollte (1. Chr. 21; 2. Sam. 24). Die Verschränkung dieser zeitlichen Ebenen im Sinne des typologischen Deutungsverfahrens wird in einem Fresko im Inneren der Redentore-Kirche aufgenommen und erweitert, auf dem der Doge und die Senatoren mit dem Stadtmodell Venedigs im Kreis Marias und der Stadtpatrone vor Gottvater knien. Umrahmt ist die Darstellung von einer Inschrift mit dem Schutzversprechen, das Gott einst dem König Hiskia für sich und seine Stadt gegeben hatte (2. Kg. 20:6). Doch verweist das Gelübde natürlich in erster Linie in die Zukunft: Sühneleistungen werden versprochen und eine alljährliche Gedenkprozession instituiert. Diese fand zum ersten Mal am dritten Sonntag des Juli 1577 statt: Eine über Gondeln angelegte Pontonbrücke führte vom Dogenpalast zur Giudecca, wo bereits der Grundstein der neuen Kirche gelegt worden war; dort wurde eine Messe gefeiert. In dieser „andata ducale“ („Gang des Dogen“) wurden somit mehrere Zeitschichten aufeinander bezogen: die Erinnerung an die Pest, die zahllosen Opfer und das Gelübde, der biblische Rückbezug auf Strafe und Erlösung, die Mahnung an die Gegenwart und der Verweis in die Zukunft bis zum Jüngsten Tag, mit dem sich die Hoffnung verband, daß Gott die Stadt künftig von solcher Strafe verschonen möge. Die vermeintliche Gottesstrafe erfuhr im Rückgriff auf das Alte Testament eine Deutung als Umschlagmoment, indem die Sühne vergangener Sünden das Heilsversprechen für die Zukunft in sich trug.

Noch heute wird am dritten Sonntag des Juli zur Festa del Redentore die Prozession zur Votivkirche durchgeführt, seit 1578 allerdings mittels zweier kürzerer Brücken, die den Canal Grande und den Canale della Giudecca überqueren, und seit dem Ende der Republik 1797 ohne Dogen. Am Abend zuvor findet im Bacino di San Marco ein spektakuläres Feuerwerk statt, zu dem die ganze Stadt und ihre Besucher zusammenkommen. So prägt das Gelübde des Dogen von 1576 – anders als in vielen anderen Fällen – den Kalender der Stadt bis in die Gegenwart mit und hält die Erinnerung an die Befreiung von einer der schlimmsten Katastrophen ihrer Geschichte wach.