Unter der gelben Choleraflagge. Gabriel Garciá Márquez, Die Liebe in Zeiten der Cholera

Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)

Rijkdom is waardeloos na de dood, Philips Galle naar Maarten van Heemskerck, 1563.
© Rijksmuseum, Amsterdam

Das ist schon eine seltsame Geschichte, die Gabriel García Márquez in seinem Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera (span. El amor en los tiempos del cólera, erschienen 1985) erzählt: Fermina Daza und Florentino Ariza verlieben sich in jungen Jahren ineinander. Ferminas Vater aber ist gegen diese Verbindung und nimmt seine Tochter mit auf eine Reise: er bringt sie dann zu entfernt lebenden Verwandten, damit sie sich den Ariza aus dem Kopf schlage. Aber weit gefehlt: Die zweijährige Trennung bewirkt nur, dass sich das Paar erst recht in seine Liebe hineinsteigert und auch Wege findet, miteinander schriftlich zu kommunizieren, freilich ohne dass Vater Daza es merkt. Als die Tochter schließlich in die Heimatstadt zurückkehren darf und Florentino Ariza ihr plötzlich gegenübersteht, bekommt sie einen Schreck, weil der unscheinbare und gealterte Florentino nichts mit dem Idealbild zu tun hat, das sie sich in seiner Abwesenheit von ihm gemacht hat. Kurzentschlossen sagt sie sich von ihm los und heiratet nach gewissen Widerständen den angesehenen Arzt Juvenal Urbino, mit dem sie über fünfzig Jahre lang eine einigermaßen glückliche Ehe führt. Als der Gatte stirbt, steht Florentino wieder auf der Matte, und es gelingt ihm durch Beharrlichkeit, die frühere Geliebte, die sich zunächst widerstrebend zeigt, zurückzuerobern. Ihren letzten Widerstand gibt Fermina Daza auf einer Flusskreuzfahrt auf, zu der Florentino Ariza, der Präsident der Flussschifffahrtsgesellschaft K. F. K. geworden ist, die Geliebte einlädt. Auf dem Schiff verleben sie, beide in ihren Siebzigern, Tage eines späten Glücks. Sorge bereitet ihnen nur der Gedanke an das Ende der Schiffsreise: Im alten Leben an Land scheint die neue Beziehung in Anbetracht der zu erwartenden Widerstände von Ferminas Familie wie der Gesellschaft, die von Ariza keine gute Meinung hat, nicht lebbar. Als sich Florentino Ariza beim Kapitän des Schiffs erkundigt, ob es keine Möglichkeit gebe, die Fahrt zu verlängern, hat dieser eine Idee:

Der Kapitän erwiderte, dies sei nur hypothetisch möglich. Die K. F. K. habe Arbeitsverträge, die niemand besser kenne als Florentino Ariza, sei verpflichtet, Fracht, Passagiere, Post und vieles mehr zu befördern, und die meisten dieser Verträge seien nicht zu umgehen. Über all das könne man sich nur hinwegsetzen, wenn ein Pestfall an Bord sei. Dann werde das Schiff nämlich mit Quarantäne belegt, die gelbe Fahne aufgezogen, und es herrsche der Ausnahmezustand. Kapitän Samaritano hatte das mehrfach wegen der vielen Cholerafälle im Flußgebiet durchexerzieren müssen, wenn auch später die Sanitätsbehörde die Ärzte dazu gezwungen hatte, Atteste über einfache Dysenterie auszustellen. Übrigens sei die gelbe Pestflagge in der Geschichte des Flusses auch oft gehißt worden, um Steuern zu entgehen, einen unerwünschten Gast nicht aufnehmen zu müssen oder unliebsame Kontrollen zu vermeiden. Florentino Ariza fand unter dem Tisch Fermina Dazas Hand.
(Gabriel García Márquez, Die Liebe in den Zeiten der Cholera, aus dem kolumbianischen Spanisch von Dagmar Ploetz, Köln 1987, 501)

Gesagt, getan. Auch der Kapitän holt sich noch eine alte Liebe an Bord, und unter der fröhlich am Hauptmast flatternden gelben Choleraflagge (vgl. 502) genießt man die Freuden späten Glücks. Gleichwohl machen sich die Passagiere in nüchternen Momenten Gedanken über das unvermeidliche Ende ihrer Schiffsfahrt, das zwangsläufig in „das Grauen des wirklichen Lebens“ (506) führen muss. Doch die Imaginationskraft der Liebe vermag sich über diese trübe Aussicht hinwegzusetzen. Florentino Ariza, der dreiundfünfzig Jahre lang auf Fermina Daza gewartet hat, fasst den Entschluss und gibt dem Kapitän den Befehl, einfach immer weiterzufahren, hin und her auf dem Magdalenenfluss – „[d]as ganze Leben“, sagte er (509). Und mit diesen Worten endet der Roman.

Pest und Cholera sind von Anfang an präsent im Roman und rahmen gewissermaßen diese Liebesgeschichte. Immer wieder gibt es Anspielungen auf frühere Epidemien, das Wasser in der Bucht enthält Krankheitskeime (vgl. 33) und im Süden des Landes wütet die Cholera tatsächlich. Fermina Dazas Ehemann Dr. Urbino Juvenal ist Cholera-Experte, der sich um die Eindämmung der Krankheit in seinem Land verdient gemacht hat (vgl. 70, 169). Ähnlich wie in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (vgl. Dossiers RAUM und MASKEN) werden Liebe und Seuche enggeführt, gar miteinander identifiziert. Dem arbeitet bei García Márquez zu, dass ,cólera‘ im Spanischen auch ,Wut‘ und ,Zorn‘ bedeutet. Nachdem der junge Florentino Ariza Fermina Daza seinen ersten Liebesbrief geschrieben hat, „steigerte sich seine Unruhe zu galligem Erbrechen und Durchfall, er verlor den Orientierungssinn und wurde von plötzlichen Ohnmachtsanfällen heimgesucht, was seine Mutter in Schrecken versetzte, da sein Zustand nicht an die Verwirrungen der Liebe, sondern an die Verheerungen der Cholera erinnerte“ (95; vgl. 320). Und als der gealterte Florentino erstmals der Witwe Daza seine Aufwartung macht, bekommt er vor Aufregung Durchfall. „Passen Sie auf, Don Floro,“ sagt sein besorgter Chauffeur zu ihm, „das könnte Cholera sein“ (447). Liebe und Seuche stehen also in einem metaphorischen Verhältnis zueinander. Ein tertium comparationis ist nicht nur die Gewalt der Ansteckung, sondern auch die mit ihr verbundene phantasmatische Kraft, die in jungen Jahren, als das Paar getrennt war, die Liebe erst recht nährte, wie sie auch im Sinne des magischen Realismus das kühne Ende des Romans möglich macht. Dass die Menschen generell das Phantasma der Seuche trick- und variantenreich einsetzen, zeigt nicht nur die gelbe Pestfahne, unter der das Liebesschiff am Romanende segelt, sondern auch das im Blockzitat erwähnte Handeln von Behörden, Ärzten und Steuersparern...

Die Tatsache, dass das Leben des alten Liebespaars – Florentino nimmt an der Geliebten den „Geruch menschlicher Zersetzung“ wahr und geht davon aus, „daß er den gleichen Geruch hatte“ (490) – auf einem Schiff seine Erfüllung findet, ruft ein weiteres symbolträchtiges Bild auf. Die Liebenden kommen sozusagen auf einer Flusskreuzfahrt zusammen; dies lässt an moderne Kreuzfahrtschiffe denken, die für Luxus und Genuss stehen, im Zuge der Covid-19-Pandemie aber auch zu sog. Hotspots wurden. Man denkt jedoch unweigerlich auch an das von dem mythischen Fährmann Charon geruderte Floß über den Totenfluss, das die Menschen in den Hades transportiert. An Charons Stelle tritt bei García Márquez ganz offenkundig der Kapitän Samaritano. Der, mit Foucault gesprochen, heterotope Ort des Schiffs, auf dem Begegnungen möglich werden, die im realen Leben auf Grenzen stoßen, steht letztlich für eine Passage zwischen Leben und Tod. Es ist das vom Tod gezeichnete Leben, das sich hier noch einmal feiern darf. Die Tatsache, dass die Protagonistin Fermina Daza als alte, im Verfall begriffene Frau dargestellt wird, die ihre frühere Schönheit weitgehend eingebüßt hat, und auch ihr Liebhaber Florentino Ariza nicht viel besser dasteht, lässt an die im Beitrag von Jens Niebaum beschriebenen allegorischen Verkörperungen von Pest und Tod denken. Im Angesicht des Todes werden in der Romanerzählung die Liebenden in ihrem späten Glück selbst zu Personifikationen des Todes.