Die Unausweichlichkeit des „schwarzen Todes“: Böcklins „Pest“ von 1898

Von Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems

Arnold Böcklin, Die Pest, Öl auf Holz, 149,5 x 104,5 cm
© Basel, Kunstmuseum (gemeinfrei)

Weit sind die pechschwarzen Flügel ausgebreitet, sie durchschneiden horizontal die Bildfläche und zerstören das Idyll einer von der Sonne beschienenen Stadt. Das ungeheuerliche Drachenwesen rauscht durch die enge Gasse direkt auf den Betrachter zu, sein langer Hals ist nach links unten gedreht. Seinem weit aufgerissenen Rachen entströmt ein weiß-bläulicher Hauch. Dieser todbringende Atemhauch hat sich hinter dem Drachen zu einer bedrohlichen Wolke aufgetürmt und hinterfängt die eigentliche Hauptfigur wie eine Aureole: Auf dem Ungeheuer reitet der Tod, ein mit spärlichem grau-grünen Fleisch überzogener und von einem durchscheinenden kurzen schwarzen Gewand bedeckter Leichenkörper, der weit mit der Sense ausholt. Sein Kopf mit den tief dunklen Augenhöhlen und gebleckten Zähnen ist in Flugrichtung gewendet, so als fixiere der Tod seine nächsten Opfer in der Ferne. In der perspektivisch sich nach hinten stark verengenden Gasse werden die Folgen des tödlichen Wütens dramatisch inszeniert: Menschen – zumeist schwarz oder rot gewandet – versuchen in die Häuser zu fliehen, winden sich im Todeskampf, sie werden überfangen vom Schatten des Todes oder werfen sich effektvoll nieder auf der obersten Stufe der Freitreppe im Hintergrund vor dem gleißenden Pesthauch. Das Drama aus menschlichem Leiden und Sterben kulminiert schließlich im unmittelbaren Vordergrund: Auf dem perspektivisch weit nach vorne kippenden, von unregelmäßigen Steinplatten gebildeten Boden liegt lang ausgestreckt ein toter Frauenkörper; das weiße Gewand – wohlbekanntes Zeichen für Reinheit und Unschuld – und die weiße Haut wurden noch nicht vom Schatten des Todes erfasst, doch wird dessen aus der Bildtiefe unaufhaltsam nach vorne treibende Bewegung bereits aufgegriffen durch die sich über die junge Tote ergießende rotgewandete Gestalt mit den langen schwarzen Haaren. Links oberhalb dieser Szene ist in der Hauswand eine Nische mit einem Bildstock zu erkennen. Schemenhaft wird eine Madonna mit Kind sichtbar, frische Blumen zeugen von der zuvor noch bestehenden Hoffnung auf Schutz und Rettung, die der triumphierende Tod jäh zunichtemacht. Ein weißhaariger bärtiger Greis, vom Hauch des Todes getroffen, sinkt an der Hauswand nieder, sein Umriss, sein Inkarnat und seine Kleidung verschmelzen farblich mit dem Gemäuer.

Dieses durch seine starken Licht- und Farb-Kontraste sowie die gewagte Perspektive beeindruckende Gemälde hat der Schweizer Künstler Arnold Böcklin (1827-1901) im Jahre 1898 gemalt und mit „Die Pest“ betitelt. Böcklin selbst war damals bereits 71 Jahre alt und durch schwere Krankheiten gezeichnet. „Die Pest“ war sein letztes Werk, welches zudem unvollendet blieb. Anlass war jedoch nicht, wie man vermuten könnte, ein aktueller Epidemieausbruch. Die Pest war Ende des 19. Jahrhunderts seit fast 200 Jahren in Europa nicht mehr aufgetreten, im Gegensatz zu den über Jahrzehnte wütenden Krankheiten Cholera und Typhus, die großes Leid über Böcklins Familie brachten: sein erster Sohn starb 1854 an der Cholera, ein weiterer 1858 an Typhus. Gut zwanzig Jahre früher, 1876, hatte sich Böcklin mit der Cholera auch künstlerisch auseinandergesetzt: In Zeichnungen hielt er den Tod fest, der, ähnlich wie in „Die Pest“ auf einem drachenartigen Untier sitzend, die Menschen mit der Sense niedermäht. Dieses Motiv griff Böcklin 1898 wieder auf und versetzte das mit der „Pest“ titulierte Geschehen in einen kaum näher bestimmbaren Ort, der am ehesten an italienische Gassen erinnern mag (Böcklin lebte seit Jahren in einem kleinen toskanischen Ort). Auch verweigert der Künstler einen konkreten zeitlichen Bezug: Die Kleidung bleibt zumeist unspezifisch, ebenso fehlen Straßenbeleuchtung oder andere Elemente einer zeitlich bestimmbaren Infrastruktur. Durch diese örtliche und zeitliche Indifferenz gewinnt das dargestellte Geschehen einen überzeitlichen Charakter. Böcklin hat somit kein Historiengemälde der Pest geschaffen, wie es etwa 1869 Jules Elie Delaunay in seinem sehr erfolgreichen Werk „Die Pest in Rom“ ausführte, das in der Gegenüberstellung von Heidentum und Christentum Bezug auf die Legenda Aurea des Jakobus de Voragine und die Geschichte des Heiligen Sebastian nimmt (vgl. zu dieser den Beitrag von M. Sandberg). Freilich griff Böcklin auf eine lange Ikonographie zurück, die auch im 19. Jahrhundert immer wieder Verwendung fand und in der einen oder anderen Variante dem gebildeten Publikum gut bekannt gewesen sein wird: Holbeins „Totentanz“ oder Dürers „Apokalyptischer Reiter“, schließlich der auf einem Pferd reitende Tod, den Böcklin selbst in seinem 1896 entstandenen Gemälde „Der Krieg“ bereits zur Anschauung gebracht hatte. Dieses immer wieder eng mit dem Pestgeschehen verwendete Motiv des (reitenden) Todes erlangte im 19. Jahrhundert große Berühmtheit in Alfred Rethels als Bilderbogen in hoher Auflage publizierten Zyklus „Totentanz aus dem Jahr 1848“, der auf die aktuellen politischen Ereignisse der Revolution von 1848 Bezug nahm.

Böcklins „Pest“ von 1898 ist weder eine Historie noch ein durch aktuelle politische oder pandemische Ereignisse geprägtes Gemälde. Im Rückgriff auf eine zwar damals nicht mehr akut gefährdende, aber im kollektiven Gedächtnis noch immer als höchst vernichtend präsente Krankheit inszeniert Böcklin den „Schwarzen Tod“ als Symbol der grundsätzlichen Bedrohung menschlicher Existenz. Letztlich greift der Künstler in seiner hochformatigen Bildanlage auch auf die zahlreichen Pestvotivbilder früherer Jahrhunderte zurück, die ihm als Wahlitaliener bekannt gewesen sein dürften und die durchaus ebenso das Motiv des Sensenmannes integrierten, mit einem gewichtigen Unterschied: Die Personifikation des Todes mit seinem grausamen Treiben erscheint meist im Hintergrund, während das eigentliche Zentrum von den die Epidemie erfolgreich bekämpfenden Heiligenfiguren auf Wolken oder der Gottesmutter in einer Aureole besetzt wird, um der Hoffnung auf Schutz und Erlösung Ausdruck zu verleihen. In nahezu grausamer Weise kehrt Böcklin diese bildpragmatische Erwartungshaltung um. Nicht mehr der Heilige steht im Zentrum, der erfolgreich gegen das Unheil kämpft, sondern das Unheil selbst, hinterfangen von einer Aureole aus Pesthauch und Staub und damit von einer Bildformel, die hier nicht mehr für die Rettung steht: Der in der Bildmitte auf seinem Drachenwesen heranrauschende schwarze Tod symbolisiert in existentieller Weise die Unterlegenheit des Menschen gegenüber dem unsichtbaren Gegner, gegen den selbst der zur Nebenrolle degradierte Bildstock an der Wand – und damit die Religion – machtlos ist. Böcklins „Pest“ ist ein eigentümlich pessimistisches Werk, das die Unausweichlichkeit und Grausamkeit des Schicksals im menschlichen Dasein zu inszenieren scheint.