© exc/Schwarzes Quadrat/ culture-images/fai; Muttergottes von Vladimir/ Ikonen-Museum Recklinghausen, https://westfalen.museum-digital.de/singleimage?imagenr=18133; Szenenstandbild aus Bežin lug (1937), Sergej Ėjzenštejn

Ikonen – Merkmal russischer Identität zwischen Tradition, Religion und Politik

Interview mit den Slavistinnen Irina Wutsdorff und Daniela Amodio

Ikonen nehmen in der russischen Kultur seit dem 19. Jahrhundert eine herausgehobene Stellung ein: Ursprünglich kultische Bildwerke der orthodoxen Liturgie, wurden sie von den sogenannten Slavophilen, Anhängern einer russischen philosophisch-politischen Ideologie im 19. Jahrhundert, die die Eigenständigkeit Russlands gegenüber Westeuropa betont, zu Sinnbildern eben dieser eigenen Tradition erhoben. Grund dafür war, dass die Ikonen sich von der westeuropäischen und westkirchlichen Bildtradition unterscheiden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ untersuchen das Spannungsfeld der Bezugnahme auf die Ikonen-Tradition im Forschungsprojekt „Zwischen religiöser Tradition und ästhetischer Innovation. Die A-Mimetik der Ikone in der russischen Kunst und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts“. Ein Gespräch mit Projektleiterin und  Slavistin Irina Wutsdorff und Projektmitarbeiterin und Doktorandin Daniela Amodio:

In Ihrem Projekt steht die Bezugnahme russischer Kunst und Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts auf die traditionelle Ikonenmalerei im Mittelpunkt Ihrer Forschung. Was genau untersuchen Sie?

© Uni Münster

Irina Wutsdorff: Ikonen sind Kult- und Heiligenbilder, die überwiegend in den Ostkirchen verehrt wurden und werden. Wir untersuchen in unserem Projekt, wie die Konzepte und Denkfiguren, die diesen bildhaften und dem Bereich des Religiösen zugehörigen Darstellungen zugrunde liegen, in Kunst und Literatur in Russland im ausgehenden 19. Jahrhundert aufgegriffen und transformiert wurden. Was ermöglicht den Transfer zwischen dem Religiösen und dem Ästhetischen? Dabei, das ist eine grundlegende Annahme des Projekts, betrifft die Auseinandersetzung mit der Ikone immer auch die Auffassungsweise von Kunst und von deren Stellenwert im Verhältnis zur existierenden oder erstrebten Wirklichkeit. Anhand der Ikone zeigt sich so eine – durchaus auch politische – Weltanschauungsweise.

Ikonen gelten bei den Slavophilen seit dem 19. Jahrhundert als Sinnbild einer eigenständigen russischen Tradition. Wie sieht dabei die Abgrenzung zur westeuropäischen und westkirchlichen Bildtradition konkret aus?

Irina Wutsdorff: Die Konzeption der Ikone sieht etwa wie folgt aus: Vom Betrachter aus soll sich beim Blick auf die Ikone ein Blick ins Transzendente, ins Göttliche eröffnen. Deshalb wird die Ikone auch manchmal als „Fenster zum Jenseits“ bezeichnet. Anders, als wir es aus der westeuropäischen Kunst seit der Renaissance kennen, gibt es nicht die Zentralperspektive, bei der der Betrachter ins Bild hineingezogen wird. Stattdessen läuft die Perspektive auf den Betrachter zu, was auch „umgekehrte Perspektive“ genannt wird. Ein weiteres Merkmal ist die Lichtgebung: Diese hat nicht wie in der westeuropäischen Malerei eine erkennbare Lichtquelle außerhalb des Bildes, sondern die Ikone selbst gibt ihr Licht – das göttliche Licht, das auf den Betrachter strahlt. Daher haben wir oft einen goldenen Hintergrund, der genau das symbolisiert.

Daniela Amodio: In der Ikonentradition gibt es, anders als in der westeuropäischen Kunst, keinen individuellen Künstler, der eine Ikone malt. Der Vorstellung nach wird immer wieder dasselbe Bild heiligen Ursprungs „geschrieben“, wie es von Ikonen heißt – auch wenn sich die Darstellungsweisen fester Bildtypen, etwa der sich gerührt dem Christuskind zuwendenden Gottesmutter (russisch: Umilenie), im Lauf der Zeit sehr wohl änderten. Das als ursprünglich verstandene Bild ist dabei im russischen Kontext die Gottesmutter von Vladimir. (siehe Bild oben Mitte)

Wie finden Ikonen Eingang in Kunst und Literatur?

Irina Wutsdorff: In der Literatur des 19. Jahrhunderts finden wir vielfach Bezugnahmen auf Ikonenmalerei, etwa bei Dostojevskij im Roman „Der Idiot“. Dort hat der Bösewicht Rogožin ein Bild von Holbeins „Christus im Grabe“ über dem Türrahmen hängen. Das ist quasi eine Anti-Ikone, weil sie Christus unter Verwendung von Tiefenperspektive in seiner absoluten Körperlichkeit, liegend und von Leid gezeichnet, zeigt. Das ist ein Gegensatz zur klassischen Ikone, wo Christus aufrecht, in aller Herrlichkeit mit Heiligenschein, in flächiger Darstellung mit goldenem Hintergrund erscheint. Bei Nikolaj Gogol’, in „Das Porträt“, gibt es einen Maler, der den Teufel malt – auch das ist eine Art Anti-Ikone. Das sind Beispiele für eine das „Traditionelle“ fortschreibende Bezugnahme auf Ikonen in der Literatur.

Außerdem finden Ikonen Eingang in die Kunst der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Bekannt ist etwa Kazimir Malevičs „Schwarzes Quadrat“, das er selbst als „Ikone seiner Zeit“ bezeichnet hat. (siehe Bild oben links) Auch wenn es nur eine schwarze Fläche ist, geht Malevič in seiner Malweise sehr bewusst auf die Zweidimensionalität der Ikonenkunst ein. Mit dem Schwarzen Quadrat treibt er deren A-Mimetik, die Nicht-Nachahmung, ins Extrem. Hinzu kommt bei diesem Werk, dass Malevič es in der Ausstellung, in der er es das erste Mal präsentierte, in die Ecke, und damit an die Stelle hängte, an der sonst die Hausikone hing, vor der traditionell gebetet wurde. Das war eine bewusste Provokation. Inhaltlich wollte er, denke ich, der Kunst dieselbe transformative, fast transzendierende Kraft zuschreiben wie der Religion. Und dieses Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation ist zentral für unser Projekt.

In welche Medien wirken Ikonen noch?

Irina Wutsdorff: Innerhalb des Projekts schreibt Daniela Amodio ihre Doktorarbeit über Transformationen der Ikonentradition im frühsowjetischen Film. Einerseits sind Ikonen hier Sinnbilder für die zu überwindende Religion, etwa wenn gezeigt wird, wie Ikonen zerstört oder aus den Kirchenräumen herausgetragen werden. Andererseits greifen die Filme auf die russisch-orthodoxe Bildtradition zurück, um sowjetische Helden zu glorifizieren. Dabei orientieren sie sich ästhetisch, aber auch strukturell an Viten-Ikonen. Diese brachten den größtenteils analphabetischen Gläubigen in Bilderfolgen, beinahe wie in einem Comic, das Leben von Heiligen nahe. Hier konnte das neue Medium Film Anfang des 20. Jahrhunderts mit propagandistischer Zielsetzung an die didaktische Funktion der Ikonenmalerei anknüpfen.

© exc/pie

Daniela Amodio: In Sergej Ėjzenštejns „Bežin lug“ (1937) bspw. werden die Kolchose-Bauern wie Ikonenheilige inszeniert. Gezeigt wird etwa, wie ein Bauernjunge durch eine Riza blickt, die traditionell als Schutz über Ikonen gelegt wurde. Im Film jedoch wirkt die Riza wie eine leere Hülle, die neu gefüllt werden soll. Anstelle einer Heiligenfigur erscheint nun ein Bauernjunge. Die Komposition der Szene transportiert eine klare Botschaft: Die Bauern treten an die Stelle der Ikonenheiligen. Ein weiteres Verfahren ist bei der Darstellung des für das Neue stehenden Protagonisten zu beobachten: So erinnert beispielsweise die Lichtgebung bei ihm an die der Ikonen: Er wird wie von innen heraus leuchtend dargestellt.

Sie erwähnen gerade eine „propagandistische Zielsetzung“ im sowjetischen Film. Inwieweit wurden und werden Ikonen auch dafür eingesetzt, bestimmte politische Botschaften zu vermitteln?

Irina Wutsdorff: Es gibt inzwischen neben den herkömmlichen Ikonen auch sogenannte ‚Stalin-Ikonen‘ mit traditionellem Rahmen und dem ehemaligen sowjetischen Diktator Josef Stalin. Und auch auf Rekrutierungsplakaten für die russische Armee findet sich die klassische, sozusagen nicht von Menschenhand geschaffene Christus-Ikone im Hintergrund. Das ist in diesem Zusammenhang ein klares politisches Signal: Orthodoxie vertritt, in Gegenüberstellung zum vermeintlich dekadenten Westen, die wahren Werte. Auch der russische Präsident Vladimir Putin positioniert sich bspw. in seinen öffentlichen Auftritten als Teil des gläubigen Volkes und besucht orthodoxe Gottesdienste, deren Teil die Ikonenverehrung ist. Mit solchen symbolischen Handlungen betont er die enge Verbindung zur Orthodoxie.

Hat sich durch den russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 der wissenschaftliche Blick auf Ikonen verändert?

Irina Wutsdorff: Vielleicht weniger auf die Ikonen selbst. Aber: Ja! Wir Forschenden in der Slavistik und der Osteuropäischen Geschichte schauen nun kritischer auf Texte und Positionen, die sich auf die Ikonenmalerei beziehen. Heute erkennt man stärker Überlappungen mit ultranationalistischen Ideologien. Wir stellen uns zunehmend die Frage: Hätten wir solche Züge, die man früher eher im Hinblick auf die Opposition zur Sowjetideologie betrachtet hat, kritischer einordnen müssen?

Zum Abschluss aber noch ein Blick über Russland hinaus. Auch wenn Ikonen dort als Merkmal der eigenen Identität vereinnahmt werden, gibt es Orthodoxie und Ikonenverehrung ja auch in anderen Ländern. Ein aktuelles Beispiel ist die Ukraine: Hier werden heute Ikonen auf entleerten Munitionskisten geschrieben. Diese gehen dann oft zurück an die Front und haben dort für die Soldaten dieselbe Bedeutung und Funktion wie eine traditionelle Ikone. Bekannt geworden und als ‚Meme‘ vielfach reproduziert ist das Motiv der sogenannten „Javelin-Ikone“, bei der Maria statt des Jesuskinds eine Panzerabwehrrakete im Arm trägt. Das sorgt für Diskussionen, aber es zeigt auch, wie Ikonen mit der aktuellen politischen Realität des Krieges verbunden werden. Aber nicht nur damit, sondern auch mit der bereits seit der Unabhängigkeit und trotz bzw. im Angesicht des Krieges weiter aufblühenden ukrainischen Literatur beschäftigt die Slavistik sich jetzt zunehmend. (pie/fbu)