Papst Franziskus und der religiöse Pluralismus

Ein Beitrag von Perry Schmidt-Leukel vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ zum Tod des Papstes

Vor sechzig Jahren überraschte das Zweite Vatikanische Konzil die Welt mit seiner Öffnung der katholischen Theologie für die anderen christlichen Kirchen und die nichtchristlichen Religionen. Den Weg dazu hatten einflussreiche Theologen wie Karl Rahner (1904-1984), Henri de Lubac (1896-1991) oder Yves Congar (1904-1995) schon lange gebahnt. Mit dem Rückenwind des Konzils nahmen sowohl die christliche Ökumene als auch der interreligiöse Dialog Fahrt auf und führten zu erstaunlichen Resultaten wie beispielsweise der katholisch-lutherischen Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) oder dem ersten großen interreligiösen Friedensgebet von Assisi (1986). Unter Joseph Ratzinger (1927-2022), zunächst als Präfekt der Glaubenskongregation und dann als Papst Benedikt XVI., kam es jedoch zu empfindlichen Rückschlägen. In Folge der von Ratzinger unterzeichneten Erklärung Dominus Iesus (2000) stagnierten nicht nur die ökumenischen Fortschritte, sondern insbesondere auch die theologischen Bemühungen um ein besseres Verständnis religiöser Vielfalt. Zahlreiche hierzu arbeitende Theologen und Theologinnen wurden unter Ratzinger und seinem Nachfolger als Präfekt der Glaubenskongregation, Gerhard Ludwig Müller, gemaßregelt, mit Publikations- und Berufsverbot belegt oder exkommuniziert.

All das änderte sich, als Jorge Mario Bergoglio am 13. März 2013 sein Amt als Papst Franziskus antrat. Unter ihm wurde Kardinal Müllers Amtszeit nicht verlängert und die Verurteilungen katholischer Theologen und Theologinnen hörten nahezu vollständig auf. Stattdessen geriet Papst Franziskus selbst unter Verdacht. Hochrangige Bischöfe wie Joseph Strickland oder Charles J. Chaput, aber auch Kardinal Müller, verurteilten offen einige Positionen von Franziskus als „häretisch“ oder sogar als nicht christlich. Besonders betroffen hiervon war seine Haltung zu den nichtchristlichen Religionen.

Im Jahr 2015, anlässlich des fünfzigsten Jubiläums der Konzilserklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, erklärte Franziskus, die Menschheit möge erkennen, dass sie eine einzige große Familie in der Harmonie der Vielfalt bilde. Diese Vielfalt schließe auch die Vielfalt der Religionen ein. Dreieinhalb Jahre später (2019) unterzeichnete er in Abu Dhabi gemeinsam mit Ahmad al-Tayyib, dem Groß-Imam und Rektor der in der islamischen Welt hoch geachteten Al-Azhar Universität, die Erklärung Human Fraternity („Über die Brüderlichkeit aller Menschen“). In dieser sogenannten Abu Dhabi Erklärung bezeichneten beide Religionsführer die Vielfalt der Religionen als gottgewollt: „Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat.” 

Vor allem diese Auffassung brachte Franziskus den Vorwurf der Irrlehre ein. Gerhard Ludwig Müller versuchte zunächst, die Aussage des Papstes umzudeuten. Die Vielfalt der Religionen sei nicht positiv von Gott gewollt, sondern nur bewusst zugelassen, so wie Gott auch das Übel zulasse. Doch diese Interpretation widersprach nur zu deutlich den Intentionen des Papstes. Schon wenige Monate vor der Abu Dhabi Erklärung hatte Franziskus 2018 anlässlich des Weihnachtssegens Urbi et Orbi erklärt, Gott habe die Menschheit, einschließlich ihrer Religionen, als vielfältig erschaffen, „so wie wenn ein Künstler ein Mosaik schaffen will: da ist es besser, Mosaiksteine mit vielen Farben zu haben als nur mit einigen wenigen.“ So spricht niemand, der nur von einer göttlichen Zulassung der Religionsvielfalt redet. 

Völlig unzweideutig waren denn auch die Aussagen von Franziskus vor einem guten halben Jahr (13. September 2024) bei einem interreligiösen Jugendtreffen in Singapur. Die Einstellung „Meine Religion ist wahr, deine Religion ist falsch“, aber auch die Einstellung „Meine Religion ist wichtiger als deine“, würden beide, so der Papst, „zu Zerstörung“ führen. Als Alternative schlug er vor: „Alle Religionen sind Wege zu Gott. […] Sie sind wie verschiedene Sprachen, die das Göttliche ausdrücken. Aber Gott ist für jeden und daher sind wir alle Gottes Kinder. […] Es gibt nur einen Gott und Religionen sind wie Sprachen, Wege zu Gott. Einige sikhistisch, einige muslimisch, einige hinduistisch, einige christlich. Verstanden?“ 

Mit diesem Statement ging Franziskus deutlich über die Position des Zweiten Vatikanischen Konzils hinaus. Denn das Konzil hatte zwar die Existenz von Elementen des Wahren, Guten und Heiligen in anderen Religionen eingeräumt, zugleich jedoch dem Christentum eine deutliche Überlegenheit zugesprochen. Mit anderen Worten, das Konzil vertrat die Haltung: „Meine Religion ist wichtiger als deine.“ Man findet diese Einstellung teilweise auch bei Franziskus. Was er in Singapur gesagt hat, deckt sich daher nicht mit allen seinen Aussagen. Aber er dürfte darin Recht haben, dass die von den Religionen gegeneinander erhobenen Überlegenheitsansprüche ein erhebliches Konfliktpotenzial in sich tragen und nicht imstande sind, religiöse Vielfalt im theologischen Sinn als wertvoll zu würdigen. 

Den Gegnern von Franziskus ist durchaus zuzustimmen, wenn sie argumentieren: Ein Anspruch auf Wahrheit darf nicht deshalb aufgegeben werden, weil diese Wahrheit zu Konflikten führen könne. Doch darum geht es in der Botschaft des Papstes gar nicht. Vielmehr geht es darum, ob nicht vielleicht eine tiefere Wahrheit darin liegt, dass sich die Unendlichkeit des Göttlichen im Leben der Menschheit nur in einer großen kulturellen wie religiösen Vielfalt widerspiegelt. Dies ist zudem keine pauschale Behauptung, sondern vielmehr der Aufruf und die Aufgabe, sich offen und redlich um das Verständnis von Vielfalt und Andersheit – auch und gerade im Feld der Religion – zu bemühen. Franziskus hinterlässt diese Aufgabe den Theologinnen und Theologen aller Religionen – ganz unabhängig davon, ob sein Nachfolger die von ihm eingeschlagene Richtung weiterführen oder, wie schon zuvor Papst Benedikt, erneut umkehren wird.

Siehe hierzu auch: Perry Schmidt-Leukel, „Pope Francis and the Question of Religious Diversity“. In The Japan Mission Journal 78:4 (2024) 249-257. (Link)