„Kuppelverse stehen ursprünglich nicht für Macht, sondern Widerstand“

Bibelwissenschaftlerin Eve-Marie Becker schildert historische Ursprungssituation der Bibelverse am Berliner Stadtschloss – „Biblischen Ursprung in der Debatte nicht ausblenden: Historische Genauigkeit wichtig, zumal Wirkungsgeschichte um preußischen König umstritten“

Prof. Dr. Eve-Marie Becker
Prof. Dr. Eve-Marie Becker
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Pressemitteilung vom 7. November 2022

Die Inschrift an der Kuppel des Berliner Stadtschlosses drückt nach ihrem biblischen Ursprung nicht Machtwillen, sondern Widerstand in ohnmächtiger Lage aus. Darauf weist die Neutestamentlerin Prof. Dr. Eve-Marie Becker vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster hin. „Im Streit um die Bibelzitate sollte die historische Ursprungssituation nicht ausgeblendet werden. Historische Genauigkeit ist hier umso wichtiger, als die Wirkungsgeschichte umstritten ist: Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. ist eine ambivalente Gestalt, und historisch ist unklar, inwieweit er, der theologisch gut informiert war, die Anbringung des Schriftzugs zur Demonstration seiner von Gott abgeleiteten Macht oder aber als Ausdruck von Demut veranlasste.“

Die Inschrift, die der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) im Jahr 1844 anbringen ließ, besteht je aus einem Vers aus der Apostelgeschichte (4,12) und dem Philipperbrief des Paulus (2,10), wie die Forscherin ausführt. „Beides sind Bekenntnisaussagen marginalisierter jüdischer Jesusanhänger, Petrus und Paulus, die Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. inhaftiert waren und später hingerichtet wurden.“ Wenn in der aktuellen Debatte gesagt werde, die Bibelworte seien in erster Linie Ausdruck preußischen Machtanspruchs oder Symbol christlich-kolonialer Herrschaft, werde dieser Ursprung ausgeblendet, so Eve-Marie Becker. „Im Kontext der frühen römischen Kaiserzeit, in den uns diese Bibelworte führen, sind diese gerade nicht als Inszenierung von politischer Macht, sondern als Zeichen persönlichen Widerstands einzelner Männer zu lesen, die in einer Lage der Ohnmacht Gottvertrauen beweisen und so für das Gemeinwohl sorgen wollten. Als solche dürften sie auch dem theologisch gebildeten Preußenkönig vertraut gewesen sein.“

„Kombination von zwei Bibelzitaten nicht ungewöhnlich“

Die Wissenschaftlerin unterstreicht, die Zusammenstellung von zwei Bibelversen sei nichts Ungewöhnliches. „In der jüdisch-christlichen Tradition sind sogenannte Mischzitate üblich, in denen zwei Bibelverse so kombiniert werden, dass sie einander gegenseitig erklären, wie hier die Worte von Petrus und Paulus. Dass Petrus und Paulus, die für verschiedene, teils konkurrierende Richtungen im Urchristentum standen, sich in diesem Schriftzug verbal ergänzen und nicht gegeneinanderstehen, ist eine weitere Pointe, die sich dem kirchenpolitischen Harmoniestreben des Preußenkönigs verdanken kann.“

Die Forscherin führt zu den historischen Hintergründen der Bibelzitate aus: „In den beiden Versen erinnern Petrus und Paulus im Angesicht ihrer drohenden Verurteilung an Tod und Auferstehung Jesu, um weltweit Hoffnung wider Verurteilung und Hinrichtung zu verbreiten.“ Beide Männer wurden später wegen ihres Bekenntnisses zum Christusglauben hingerichtet. „Paulus, der in römischer Gefängnishaft auf sein Todesurteil wartet, leitet von der maximalen Selbsterniedrigung Jesu bis zum Kreuzestod das ethische Prinzip der Demut ab.“

Die ältere Forschung ging nach den Worten von Eve-Marie Becker davon aus, dass Paulus in der Passage des Philipperbriefs einen frühchristlichen Hymnus zitiert. „Heute spricht aber viel dafür, dass diese Worte von Paulus selbst im Gefängnis verfasst wurden. Die Worte stammen also keineswegs aus kolonialistischer Zeit, wie in der aktuellen Debatte teils insinuiert wird, sondern sind historisch plausible Aussagen jüdischer Jesusanhänger aus der Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr., die sich und ihren Glauben unter komplexen zeitpolitischen Bedingungen behaupten mussten.“

Kuppel des Berliner Stadtschloss
Kuppel des Berliner Stadtschloss
© Frank Schulenburg

Zur Apostelgeschichte erläutert die Forscherin: „Der Verfasser der Apostelgeschichte, der Evangelist Lukas, lässt in Kapitel 4 Petrus – der auch deswegen unter Anklage steht, weil er zuvor einen von Geburt an Gelähmten geheilt hatte – seine Hoffnung auf Rettung in Christus bekennen.“ Es sei also nicht klar, ob Petrus tatsächlich diese Worte sagte, die auch das Zeichen der Krankenheilung deuten sollten. „Was wir aber sagen können ist, dass Lukas in seinem Werk ein hohes Einfühlungsvermögen mit Petrus beweist. Viel näher als in der Überlieferung der lukanischen Schriften kommen wir dem historischen Petrus nicht.“

Der vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) aus mehreren Bibelversen zusammengesetzte Schriftzug, der beim Wiederaufbau des Schlosses an der rekonstruierten Fassade wieder angebracht wurde, lautet: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ (vvm/sca)

Literaturhinweis: E.-M. Becker, Der Philipperbrief des Paulus: Vorarbeiten zu einem Kommentar (NET 29; Tübingen/Basel: A. Francke Verlag, 2020) Open Access