Religion und Politik am Goldenen Horn? Hagia Sophia, das nächste Kapitel

Von Byzantinist Prof. Dr. Michael Grünbart

Die Hagia Sophia
Die Hagia Sophia
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Am 10. Juli 2020 wurde vom Obersten Verwaltungsgericht der Türkei entschieden, dass die Hagia Sophia (Ayasofya) in İstanbul wieder Moschee sein wird. Mit einem Freitagsgebet soll am 24. Juli dieses Vorhaben manifest werden. Dieser Schritt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan löste heftige, aber auch gemäßigte Reaktionen von politischen und religiösen Vertreter*innen aus. Eigentlich handelt es sich dabei weniger um eine religiöse Angelegenheit – die Hagia Sophia ist seit mehr als 550 Jahren keine christliche Kirche mehr – als vielmehr um eine national(istisch)e Befindlichkeit.

Die Hagia Sopia stellte seit dem sechsten Jahrhundert den Identifikationsraum des oströmischen Reiches dar: Sie war Versammlungs-, Entscheidungs- und Krönungsort: Mit dem konstantinopolitanischen Bau untrennbar verbunden ist Kaiser Justinian, welcher die Kirche nach ihrer Brandzerstörung (532) wieder erbauen ließ. Sowohl die architektonische Konstruktion als auch die Ausgestaltung des Inneren machen die Hagia Sophia zu einem beeindruckenden Gesamtkunstwerk, bei der die Lichtverhältnisse je nach Jahreszeit die marmorverkleideten Wände und die millionenfach gesetzten goldenen Mosaiksteinchen in unterschiedlichsten Nuancen erscheinen lassen. Es ist kein Wunder, dass mehr als 3,7 Millionen Besucher (2019) das architektonische Meisterwerk besichtigten und gerne 100 TL (ca. € 13) für ein Ticket ausgaben.

Doch machte das der Heiligen Weisheit geweihte Gotteshaus zwischen dem sechsten und dem 21. Jahrhundert innere und äußere Veränderungen durch. Der Bau trotzte Stürmen, Bränden und Erdbeben; er erlebte Plünderungen, Kaiserkrönungen, Entweihung und Wiedereinweihung; er war Bastion und Zufluchtsort, Markt und Sammelpunkt der Massen sowie Raum für politische Inszenierung. Die Hagia Sophia wurde bewundert, imitiert und diente als Maßstab.
Mit dem Fall Konstantinopels (1453) wurde die wichtigste orthodoxe Kirche durch den osmanischen Sultan Mehmet II. in eine Moschee umgewandelt. Der siegreiche neue Machthaber, der nicht nur das Zentrum des oströmischen Reiches, sondern auch den Titel imperator übernommen hatte, ließ das Patriarchat verlegen – heute ist die Georgskirche der Sitz des ökumenischen Patriarchats unter Bartholomaios I. – und ein neues kirchenunionskritisches Oberhaupt einsetzen, wodurch den orthodox Gläubigen trotz muslimischer Oberherrschaft Kontinuität geboten wurde. Große Teile der prächtigen Ausgestaltung verschwanden allmählich hinter Putz und unter Teppichen. Doch wurde die Hagia Sophia nicht zum Verstummen gebracht: Sie beeinflusste die Architektur der Bauten osmanischer Architekten wie Atik Sinan (Fatih-Camii, 1471) und Sinan (Süleymaniye Camii, 1550–1557) und wirkte auf neo-byzantinische Kirchen wie die des Heiligen Sava in Belgrad (fertiggestellt 2018).

Muslimische und christliche Elemente im Innenraum
Muslimische und christliche Elemente im Innenraum
© unsplash/Meriç Dağlı

Über Jahrhunderte fungierte die Hagia Sophia als Moschee, blieb aber weiterhin Sehnsuchtsort und Identifikationspunkt der orthodoxen Welt. Auch für das osmanische Sultanat bedeutete der Besitz der Kirche ein kostbares Gut, das behütet werden musste. Ihre Wichtigkeit lässt die Hagia Sophia im 16. Jh. zum Hauptsitz des osmanischen Kalifats werden, ihre Erhaltung hielt die Erinnerung an Mehmet, den "Eroberer", aufrecht. Notwendige Restaurierungsarbeiten im 17. und 18. Jh. ließen die Mosaikdekorationen zunehmend verschwinden, zugleich wurden sie aber konserviert. Während des 17. Jh. intensivierte das Patriarchat von Konstantinopel die Beziehungen zu Moskau (seit 1589 selbst Patriarchat) und erhoffte sich Unterstützung durch den russischen Zaren und Großfürst Alexei Michailowitsch (1645–1676) – der Kaiser kehrte jedoch nicht wieder an das Goldene Horn zurück.

Mit dem Ende des osmanischen Reiches und der Säkularisierung des Staates durch den in Thessalonike (Selânik) geborenen Mustafa Kemal Pascha (1881-1938), ab 1935 Kemal Atatürk genannt, wehte ein frischer Wind, Traditionen wurden neu bewertet und Veränderungen eingeleitet. 1923 wurde die Hauptstadt nach Ankara verlegt, aus Konstantîniyye wurde İstanbul. In den frühen 1930er Jahre kam ein amerikanischer Gelehrter an das Goldene Horn: Thomas Whittemore (1871–1950), Initiator des Byzantine Institute of America, konnte durch seine Freundschaft mit Kemal erreichen, dass die Hagia Sophia den Status einer Moschee verlor (24. November 1934) und nach Restaurierungs- und Freilegungsarbeiten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Am 1. Februar 1935 wurde das Museum durch Kemal, nun Atatürk, eröffnet. Der seit Jahrhunderten unter Teppichen liegende Boden erstrahlte. Seit damals wurde die Hagia Sophia von allen Seiten als ein neutraler, religionsloser Raum akzeptiert. So besuchte Papst Franziskus wie sein Vorgänger die Hagia Sophia und wurde dort vom Direktor des Museums empfangen. Erst in den letzten 10 Jahren begann sich verstärkt die Instrumentalisierung des Museums abzuzeichnen, es diente den politischen Mächtigen der Profilierung. Dass die Entscheidung jetzt kam, überrascht nicht. Sie war gut vorbereitet, und hat mehrere Gründe: Der türkische Präsident inszeniert sich als Sieger. Jährlich gedenkt man der Eroberung Konstantinopels 1453. Im Jahre 2019 wurde die Çamlıca-Moschee in İstanbul eröffnet: Die 107,1 Meter hohen Minarette sollen an den Sieg der Seldschuken gegen die Byzantiner in Mantzikert erinnern (1071). Dieses Vorgehen zeigt auch, wie historische Ereignisse beliebig zu einem politisch passenden Narrativ amalgamieren.

Hinzu kommt der innenpolitisch starke Einfluss durch die rechtsgerichtete Partei der Nationalen Bewegung unter Devlet Bahçeli, welcher einst Gegner, heute Verbündeter des türkischen Präsidenten ist. Nun schlug sich dieser auf die Seite der Befürworter der Museumsumwidmung. Aber auch die Überfigur Atatürk erodiert zunehmend: Der neue Präsidentenpalast in Ankara übertrifft den des türkischen Staatsgründers, der nach ihm benannte Flughafen wurde geschlossen und ein neuer errichtet. Es ist nur ein logische Folge, dass die Unterschrift Kemal Atatürks unter dem Umwandlungs-Dekret von 1934 für aufgehoben erklärt wurde.

Und der Weisheit letzter Schluss? Zwar wurde die Umwidmung der Trabzoner Sophienkirche in eine Moschee wieder aufgehoben, doch scheint die Entscheidung in İstanbul nachhaltig zu sein. Wer die ehemalige Homepage des Ayasofya Müzesi besucht, kommt zur Hagia Sophia Mosque und stellt fest, dass der Eintritt frei ist und auf die für İstanbul gültigen Gebetszeiten verwiesen wird.