„Vergleichende Kriminalisierungstheorie notwendig“

Ein Kommentar zum Inzesturteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

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Dr. Bijan Fateh-Moghadam

Zum jüngsten Inzesturteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte äußert sich Rechtswissenschaftler Dr. Bijan Fateh-Moghadam in einem Beitrag für die Webseite www.religion-und-politik.de des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU).

Der Beitrag:

Anfuehrungszeichen

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall „Stübing versus Germany“ zur Frage der Vereinbarkeit der Strafbarkeit des Geschwisterinzests mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) überrascht nicht. Bereits in ähnlichen Fällen hatte der Gerichtshof in Straßburg den Nationalstaaten bei der Strafgesetzgebung einen weiten Einschätzungsspielraum eingeräumt: So wurden 2002 im Fall „Pretty versus United Kingdom“ die Strafbarkeit der Beihilfe zum Suizid und 1997 im Fall „Laskey, Jaggard und Brown versus United Kingdom“ die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführer wegen leichter Körperverletzungen im Rahmen von einverständlichen sado-masochistischen Sexualpraktiken akzeptiert. Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Achtung des Privat- und Familienlebens verlangt, erweist sich als zahnloser Tiger gegen staatliche Eingriffe in den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung, da diese über den zweiten Absatz desselben Artikels  gemäß der Rechtsprechung des EGMR sehr großzügig gerechtfertigt werden können.

So stützt sich die aktuelle Entscheidung gerade darauf, dass der in Artikel 8 Absatz 2 EMRK ausdrücklich genannte „Schutz der Moral“, ein legitimes Ziel der Strafgesetzgebung sei. Ausgerechnet dort, wo es um den Schutz vor bloßen Moralwidrigkeiten geht, also um Verhaltensweisen, bei denen sich eine konkrete Verletzung der Rechte anderer nicht feststellen lässt, sollen die nationalen Rechtsordnungen einen besonders weiten Spielraum bei der Strafgesetzgebung haben. Damit scheint der Gerichtshof hinter den bereits erreichten Standard beim Schutz der Privatsphäre durch seine Urteile zur Menschenrechtswidrigkeit der Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen über 21 Jahren (Dudgeon v. the United Kingdom aus dem Jahr 1981 und Norris v. Ireland aus dem Jahr 1988) zurück zu fallen. Die Reichweite des Freiheitsschutzes durch Art. 8 EMRK wird praktisch unbegrenzt zur Disposition der nationalen Strafgesetzgeber gestellt, wenn der EGMR schlicht darauf verweist, dass diese in einer „besseren Position sind, den exakten Inhalt der Anforderungen der guten Sitten in ihrem Land zu beurteilen.“ Eine solche explizite Rehabilitierung strafrechtlicher Sittlichkeitsdelikte durch den EGMR stellt aus der Perspektive des deutschen Straf- und Verfassungsrechts, das dem Prinzip religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichteten ist, einen Rückfall in den Rechtsmoralismus eines voraufklärerischen Strafrechts dar.

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