„Erinnerung an den Holocaust ist eine politische Pflicht“

Jüdische Philosophin Bienenstock kritisiert wachsenden Unwillen zur Erinnerung an den Holocaust

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Prof. Dr. Myriam Bienenstock sprach am Exzellenzcluster „Religion und Politik“

Die jüdische Philosophin Prof. Dr. Myriam Bienenstock sieht unter europäischen Intellektuellen einen wachsenden Unwillen zur Erinnerung an den Holocaust. In Frankreich werde es immer schwieriger, darüber zu sprechen. „Unter den französischen Intellektuellen wächst in den vergangenen Jahren der Unwillen, die Erinnerung an die Schoah aufrecht zu erhalten“, kritisierte die Wissenschaftlerin der Universität François Rabelais in Tours am Donnerstagabend in einem Vortrag am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. Selbst so schreckliche Bezeichnungen wie „Erinnerungspornographie“ könnten in Frankreich Publikumserfolge verbuchen.

Insbesondere der französische Philosoph Paul Ricoeur dürfte mit seinem im Jahr 2000 veröffentlichten, populären Buch „Gedächtnis, Geschichte, Vergessen“ und dem dort eingeführten Begriff „Erinnerungsarbeit“ zu einer Verschlechterung des Diskussionsklimas in Frankreich beigetragen haben, bemängelte die Expertin. Ricoeur schreibe, man solle vergessen, um ein „glückliches Gedächtnis“ zu erlangen, so Bienenstock. „Solche Überlegungen zum Umgang mit der Schoah haben sich in den letzten Jahren vervielfältigt und die Thesen haben sich noch verschärft.“

Eine „Schuld des Erinnerns“

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Ton-Mitschnitt des Vortrags

Die jüdische Philosophin sprach sich hingegen klar gegen das Vergessen aus. „Es gibt eine klare Pflicht zur Erinnerung“, betonte Bienenstock. „Die Wurzeln dieser Pflicht liegen tief in der christlichen und jüdischen Tradition.“ Schon im biblischen Buch Mose und in der Pessach-Haggada sei sie festgehalten, so die jüdische Philosophin. Sie schlug zudem vor, die Pflicht durch einen treffenderen Begriff zu ersetzen: „Es wäre viel angemessener, von einer ‚Schuld des Erinnerns‘ zu sprechen.“ Der Begriff „Schuld“, so die Wissenschaftlerin, habe nicht nur eine moralische und juristische, sondern auch eine materielle und finanzielle Bedeutung.

„Eine rein moralische oder religiöse Pflicht reicht nicht aus“, verdeutlichte Bienenstock. Damit die Erinnerung wirksam sei, müsse sie als „politische Pflicht par excellence“ verstanden werden. Nur auf diese Weise lasse sich sicherstellen, dass der Erinnerung in jedem Staat die je passende Bedeutung zugeschrieben werde. „Franzosen, Deutsche und Israelis müssen beispielsweise unterschiedliche Verpflichtungen haben“, sagte sie. „Doch auch wenn sie nicht für alle Länder gleich ausgestaltet sind, gelten sie doch ausnahmslos für alle und jeden.“

Prof. Dr. Myriam Bienenstock ist im Rahmen einer Mercator-Professur und auf Einladung von Philosoph Prof. Dr. Ludwig Siep vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ im Wintersemester 2010/2011 zu Gast an der Universität Münster. Ihr Vortrag „Das Gebot, zu vergessen – und die Pflicht zur Erinnerung. Religiöse und politische Dimensionen des Erinnerns“ lässt sich in der Rubrik „Audio und Video“ in voller Länge anhören. (han)