Die Popularisierung des Antisemitismus

Wissenschaftler kritisiert Verharmlosung der Rolle von Georg Ratzinger „dem Älteren“ durch die Forschung

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PD Dr. Hannes Ludyga

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Der katholische Politiker und Publizist Georg Ratzinger (1844-1899), Großonkel von Papst Benedikt XVI., hat laut Expertenmeinung weit mehr zum Antisemitismus im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts beigetragen als weitläufig bekannt ist. „Ratzingers besondere Rolle in der Entwicklung einer antijüdischen Ideologie wird in der Forschung sogar teilweise regelrecht verharmlost“, kritisierte der Jurist PD Dr. Hannes Ludyga am Dienstagabend in einem Vortrag am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Das Thema lautete „Katholischer Antisemitismus und Kritik an der modernen Gesellschaft. Georg Ratzingers Einstellung zu Juden und Judentum“.

Georg Ratzinger sei einer der radikalsten Antisemiten in Bayern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewesen, betonte der Rechtswissenschaftler Ludyga, der zurzeit den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsphilosophie und Medizinrecht an der WWU vertritt. „Es war Ratzinger, der den Antisemitismus aus der Sphäre der Vulgarität hob und ihn gesellschafts- und hoffähig werden ließ“, so der Jurist. Vor allem sein großer Einfluss auf die Bevölkerung und die Spitzen der Gesellschaft hätten für die „Popularisierung“ des Antisemitismus in Bayern und Deutschland gesorgt.

Ghettos, Entrechtung und Enteignung

Bereits im späten 19. Jahrhundert forderte der katholische Theologe und bayrische Landtagsabgeordnete Ratzinger laut Ludyga Ghettos, Entrechtungs- und Enteignungsmaßnahmen sowie eine Kennzeichnung der Kleidung von Juden. „All diese Ideen sind im Dritten Reich auf fruchtbaren Boden gefallen und haben schon vor Hitlers Machtübernahme das antijüdische Klima in Deutschland stark beeinflusst“, bekräftigte der Forscher seine Aussage.

Der judenfeindliche Antisemitismus des Theologen und Politikers war laut Ludyga jedoch nicht in erster Linie religiös motiviert. „Ratzinger pflegte vielmehr ein Geschichtsbild, das von einem starken germanisch-jüdischen Rassengegensatz ausging.“ Das Etikett der „Judaisierung“ sei dabei gegen die von ihm als krisenhaft empfundene Moderne gerichtet gewesen, die Ratzinger mit dem Judentum verband. Der Rechtswissenschaftler führte weiter fort: „Ratzinger war durch die Idee einer tödlichen Bedrohung der deutschen Bevölkerung durch eine ‚jüdische Gefahr‘ geprägt, die an Verfolgungswahn grenzte.“ Dieser Antisemitismus habe sein sonstiges Wirken erheblich geschmälert. (han)