Religion und Politik in der gesamtdeutschen Nachkriegsliteratur

Tagung zum Thema Autorschaft beleuchtet Autoren auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs

News Autorschaft Nachkriegsliteratur

Dr. Christian Sieg und Prof. Dr. Wolfgang Emmerich (v.l.) sprachen auf einer Tagung des Exzellenzclusters über Religion und Politik in der deutschen Nachkriegsliteratur.


Die politisch orientierte deutsche Nachkriegsliteratur war laut Expertenmeinung westlich wie östlich des Eisernen Vorhangs weit mehr durch religiöse Themen und Verfahren bestimmt als bisher angenommen. Dies sagten die Literaturwissenschaftler Dr. Christian Sieg und Prof. Dr. Wolfgang Emmerich auf der Tagung „Autorschaft. Ikonen, Stile, Institutionen“, die der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) veranstaltete.

Prof. Dr. Wolfgang Emmerich, einer der bedeutendsten Experten für deutsche Nachkriegsliteratur, erläuterte, wie Religion und Politik Autoren in der DDR beeinflussten. Trotz des sonst stark säkularisierten DDR-Sozialismus erlangten laut Emmerich gerade nach den leidvollen Kriegsjahren Konzepte wie Glaubenssehnsucht, Heilsbedürfnis und -erwartung große Bedeutung. „Obwohl der Staat sehr erfolgreich versucht hat, die beiden christlichen Konfessionen zurückzudrängen, wirkten die religiösen Grundmuster in den Menschen weiter – auch in den Intellektuellen und Autoren“, so der Literaturwissenschaftler.

In seinem Vortrag ging Emmerich vor allem auf Autoren der sogenannten Gründer- und Aufbaugeneration wie Franz Fühmann, Christa Wolf und Heiner Müller ein. Insbesondere die Werke, die von den späten 1940ern bis in die 1960er entstanden, seien stark geprägt durch religiöse Begrifflichkeiten, so Emmerich: „Für den katholisch erzogenen Fühmann spielten Begriffe wie ‚Wiedergeburt‘, ‚Epiphanie‘, und ‚Offenbarung‘ eine zentrale Rolle bei der Stilisierung seiner Autorschaft, für die protestantisch geprägte Christa Wolf waren es Kategorien wie ‚Gewissen‘ und ‚Bekenntnis‘. Und Heiner Müller, scheinbar ein agnostischer Autor par excellence, entpuppte sich als ein besonders stark von heilsgeschichtlichem Denken geprägter Dichter.“

Fehlende Schuldanerkenntnis nach dem Krieg

Dr. Christian Sieg, Literaturwissenschaftler am Exzellenzcluster in Münster, konzentrierte sich auf das Werk Heinrich Bölls, exemplarisch für die Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit. Böll, der häufig als „Gewissen der Nation“ bezeichnet wird, begriff das Verhältnis seiner Gegenwart zur nationalsozialistischen Vergangenheit nach dem Muster von Sünde und Beichte, so der Wissenschaftler. „Was Böll in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und besonders auch in deren Kirchen vermisste, war die fehlende Schuldanerkenntnis. Diese ist jedoch Voraussetzung für eine Absolution.“  Der Autor vollzog laut Sieg hiermit im Schulddiskurs eine oftmals nicht genügend beachtete Wende. „Denn Stein des Anstoßes war nicht die historische Schuld, sondern die zeitgenössische Ignoranz gegenüber dieser. Arbeitswut und Konsumorientierung verhinderten für Böll eine Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit.“

Böll kritisierte insbesondere, dass Parlament, Justiz und vor allem die Kirche während und nach dem Krieg ein moralisches Vakuum hingenommen habe, erläuterte Sieg. „Der Autor bemängelte den gesellschaftlichen Zustand, in dem religiöse Kategorien nicht zu politischen geworden sind. Und weil die Kirche in seiner Wahrnehmung ihrem christlichen Auftrag nicht nachgekommen war, sah sich der Autor gezwungen, stellvertretend zu intervenieren“, sagte der Literaturwissenschaftler. (han)

Fotos

Impressionen von der Autorschafts-Tagung
  • Autorschafts-Tagung: Begrüßung der Teilnehmer
  • Impressionen von der Autorschafts-Tagung
  • Impressionen von der Autorschafts-Tagung
  • Autorschafts-Tagung: Begrüßung der Teilnehmer
  • Autorschafts-Tagung: Begrüßung der Teilnehmer
  • Impressionen von der Autorschafts-Tagung
  • Autorschafts-Tagung: Begrüßung der Teilnehmer
  • Dr. Christian Sieg und Prof. Dr. Wolfgang Emmerich (v.l.) referierten über Religion und Politik in der deutschen Nachkriegsliteratur.