Selbsttäuschung in Ishiguros Erzählwerk
Das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte kann Handlungsmacht (agency) wiederherstellen und dazu beitragen, kohärente Selbstbilder in den hochdynamischen Welten zeitgenössischer (fiktionaler) Gesellschaften zu bewahren. Diese Erzählungen von widerstrittigen Identitäten lassen sich auch in Kazuo Ishiguros autodiegetischen Erzählungen An Artist of a Floating World (1986), The Remains of the Day (1989), When We Wre Orphans (2000) und Never Let Me Go (2005) erkennen.
Aber was passiert, wenn diese (Selbst-) Narrative an einem Punkt von der Logik der Diegese abweichen? Was sind Beteiligte bereit zu opfern, um ein kohärentes und einheitliches Selbst(-bild) zu erhalten? Was passiert, wenn solche Narrative einstürzen?
Das OED definiert Selbsttäuschung als “Handlung oder Praxis, sich selbst den Glauben an falsche oder unbegründete Gefühle, Ideen oder Situationen als wahr zu erlauben.“ (“The action or practice of allowing oneself to believe that a false or unvalidated feeling, idea, or situation is true”). Dies impliziert sowohl Handlungsmacht (agency), als auch eine paradoxe Wahrnehmung von Wissen: Wie kann jemand (willentlich) etwas glauben wollen, von dem er weiß, dass es falsch ist?
Ich behaupte, dass die autodiegetischen Erzähler der zuvor genannten Romane als sich-selbst-täuschend bezeichnet werden können, und Selbsttäuschung, verknüpft mit Paul Ricoeurs (und anderer) Konzept(e) Narrativer Identität genutzt werden kann, um diese bisher als irrational und paradox zu beschreibenden Identitäts-Strategien als verständlich auszuweisen.
Mit der Dezentralisierung des Subjekts und dem zunehmenden Ringen nach Identität innerhalb sich rasch aufspaltender Gemeinwesen stehen Individuen zunehmend vor der Herausforderung, sich –ohne rückversichernde, gesellschaftlicher Leitbilder, wie sie bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts üblich waren – ein kohärentes Selbstbild geben zu müssen.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert hat sich die Forschung auf narrative und projektorientierte Identitätskonstruktionen verlagert, die die Wahrnehmung ausdrücken, dass der Mensch eher rationalisierendes als rationales Tier ist (Kraus 2000).
Dieses Projekt soll zeigen, dass Selbsttäuschung sich hauptsächlich als epistemologisches Problem, welches sich in den Prozessen der Wissensbildung der entsprechenden erzählenden Protagonisten entfaltet, darstellt. Ich werde zeigen, dass sich Selbsttäuschung als (aktiver) Bewältigungsprozess des Individuums im Ringen und Unterhalten einheitlicher Identitätskonstruktionen analysieren lässt. Selbsttäuschung lässt sich dabei klar von verwandten Phänomenen wie (psychoanalytische) Verdrängung, Irrglaube, Wahnvorstellungen, Lügen, etc. abgrenzen und so die zugrundeliegenden Probleme von Handlungsmacht (agency), Intentionalität und Motivation, sowie deren Verhältnis zu den konkurrierenden Modellen des Bewusstseins in den Fokus zu stellen.
Weiter ist Selbsttäuschung in der Lage Strategien, die festgelegte, bestehende narratologische Konzepte als unzuverlässig oder unglaubwürdig beschreiben würden, ohne die implizite moralische Verurteilung und anderer Makel auf zeitgenössische Literatur anwenden zu können.
