| Kathinka Poismans
Kathinka Poismans

Geteilte Zeit - gemeinsame Zeit

Entwicklung eines Messinstruments zum Timing in der Musiktherapie mit autistischen Kindern

Dr. phil. Kathinka Poismans MMTh

Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Münster 2013
Betreuung und Erstgutachterin: Prof. Dr. Rosemarie Tüpker
Zweitgutachter: Prof. Dr. Norbert Schläbitz
in Zusammenarbeit mit der niederländischen Forschungsgruppe KenVak

Veröffentlichung

Kathinka Poismans (2014)
"Geteilte Zeit - gemeinsame Zeit" - Entwicklung eines Messinstruments zum Timing in der Musiktherapie mit autistischen Kindern. Enschede: Ipskamp.
978-94-6259-133-2
Bestellbar über die Autorin
€ 22 plus Versandkosten

Erhältlich auch im Sekretariat Musiktherapie

Zusammenfassung

Menschen mit Autismus weisen ein abweichendes Timing in der sozialen Interaktion auf. Das gemeinsame Mitklatschen zu einem Rhythmus bei einem Konzert kann beispielsweise ein Problem sein. Aber auch bei Spielmomenten mit einem autistischen Kleinkind wird die Aufmerksamkeit häufig nicht im selben Moment auf ein gemeinschaftliches Thema gerichtet. Im Rahmen einer Musiktherapie werden die Probleme autistischer Kinder mit dem Timing konkret hörbar, zum Beispiel beim „Nicht-im-Takt-spielen“, wenn das Kind sich nur schwer oder gar nicht an das Tempo eines Anderen (des Musiktherapeuten oder eines anderen Mitspielers) anpassen kann, oder in der Rigidität des Spiels des Kindes. Ein nicht adäquates Timing hat Folgen für die Interaktion, ob es sich nun um eine musikalische oder eine allgemeine soziale Interaktion handelt wie das Spielen eines Spiels oder das Führen eines Gesprächs.
Aktion und Reaktion gut timen zu können ist eine Fähigkeit, die bereits von klein auf vorhanden ist und dazu führt, dass zwischen Eltern und ihrem Baby Interaktion entsteht und aufrechterhalten wird. Gesunde Babys werden mit dieser Fähigkeit geboren: Sie können Puls, Rhythmus und Dauer erkennen. Kinder mit Autismus scheinen diese Fähigkeit nicht oder in wesentlich geringerem Ausmaß zu besitzen. Vor allem bei hochgradig autistischen Kindern, auf die sich diese Studie konzentriert, sind die Mängel im Bereich des Timings sehr auffällig und bringen negative Konsequenzen für die Interaktion zwischen dem (hochgradig) autistischen Kind und seinen Eltern mit sich. Die Interaktion verläuft schlechter, davon wird die gesamte Entwicklung beeinflusst (sozial, emotional und kognitiv). Es ist daher von großer Bedeutung, die Interaktion zwischen dem autistischen Kind und seinen Eltern – und später den anderen Familienmitgliedern und direkten Betreuern – so gut wie möglich verlaufen zu lassen. Musiktherapie kann dabei helfen. Die Grundlage der Musik (zumindest der meisten abendländischen Musik) ist eine Struktur aus Beat, Takt und Rhythmus. Diese vorhersagbare „Zeitstrukturen“ plus die Tatsache, dass der Musiktherapeut das Tempo und eventuelle rhythmische Muster an das Kind anpassen kann, sorgen dafür, dass ein gemeinsames Zeiterlebnis geschaffen werden kann, das die Basis für musikalische Interaktion ist. Das autistische Kind erhält die Möglichkeit, in das Spiel mit dem Musiktherapeuten einzusteigen und sich in der (musikalischen) Interaktion zu entwickeln. Dieser theoretische Rahmen ist der Grundgedanke der vorliegenden Dissertation.
Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Musiktherapie effektiv auf die Entwicklung des Sozialverhaltens autistischer Kinder auswirkt. Es ist allerdings noch wenig darüber bekannt, ob und wenn ja wie die musikalischen Elemente wie der auf das Timing bezogene Beat, der Takt und der Rhythmus zu diesem positiven Effekt beitragen. Um dies untersuchen zu können, wurde im Rahmen einer Promotionsforschung, InTime entwickelt, ein Messinstrument, das das Timing in der musikalischen Interaktion zwischen dem Musiktherapeuten und dem autistischen Kind messen kann. Durch den Vergleich von Vor- und Nachmessungen (und eventuell auch Zwischenmessungen) können Entwicklungen in der musiktherapeutischen Therapie quantifiziert werden.

Für die Entwicklung des Messinstruments wurde die Untersuchungsmethode „mixed methods“ angewendet, bei der qualitative und quantitative Forschung mit dem Ziel kombiniert werden, spezifische Teilfragen so gut wie möglich beantworten zu können.
Mit der qualitativen Methode wurde untersucht, welche Formen des Timings es in der musikalischen Interaktion zwischen autistischem Kind und Musiktherapeuten gibt. Dazu wurden Videoaufnahmen von alltäglichen Musiktherapiesitzungen untersucht. Das Timing in der musikalischen Interaktion kann in drei Hauptkategorien eingeteilt werden. Diese Hauptkategorien sind:

  • No Shared Time (Keine geteilte Zeit)
  • Shared Beat Rhythmic Unison (Geteilter Beat rhythmisch unisono)
  • Dialogical Exchange (Dialogischer Austausch)

Jede Hauptkategorie umfasst eine Reihe von Kodierungsregeln, die das Timing im musikalischen Zusammenspiel detaillierter beschreiben. Dieses Konstrukt aus Kategorien und Kodierungsregeln bildet gemeinsam das Messinstrument InTiME. Mit diesem Instrument kann gemessen werden, wie lange (Dauer) und wie häufig (Frequenz) das autistische Kind musikalisches Timing einer bestimmten Kategorie (Qualität) hören/sehen lässt. Beispiel

Das Messinstrument wurde anschließend auf seine Reliabilität getestet. Die Interrater-Reliabilität ist bei den fünf Beobachtern, die zuvor an einer Schulung teilgenommen hatten, hoch. Der höchste Wert beträgt 0,93, der niedrigste 0,57. Die Gruppe geschulter Beobachter erzielt einen Durchschnittswert von 0,79. Daraus kann geschlossen werden, dass es nach der Teilnahme an einer Schulung nur geringe Unterschiede zwischen den Beobachtern gibt.
Nachdem das Messinstrument als zuverlässig eingestuft wurde, wurde auch seine Validität untersucht. Wenn man davon ausgeht, dass Kinder mit Autismus wenig kohärentes Timing in der musikalischen Interaktion zeigen, muss das Instrument bei Kindern ohne Autismus (neurotypischen Kindern) andere Resultate hervorbringen. Auch müssen sich die Messungen bei geistig behinderten Kindern ohne Autismus von den Messungen bei autistischen Kindern unterscheiden, da Erstere wahrscheinlich über mehr kohärentes Timing verfügen. Das Instrument muss also unterscheiden können. Dazu wurden Vergleiche zwischen Gruppen mit zehn autistischen, zehn geistig behinderten und zehn neurotypischen Kindern angestellt. Von allen Kindern in diesen Gruppen wurden Videos mit musikalischer Interaktion zwischen Musiktherapeut und Kind analysiert. Beim Vergleich der Durchschnittswerte dieser Gruppen unterscheidet sich die Gruppe der autistischen Kinder in allen Kategorien signifikant ( (p = <,01) von den beiden anderen Gruppen.
Damit ist bewiesen, dass InTiME das musikalische Timing autistischer Kinder von dem neurotypischer und geistig behinderter Kinder unterscheiden kann, sodass auch die diskriminante Validität hinreichend gewährleistet ist.

Fortführung

Das Messinstrument InTime wurde von Britta Sperling erprobt zur Untersuchung von Kindern mit AD(H)S.

Die Masterarbeit aus dem Jahr 2014 ist über den Bestellservice verfügbar.