Sanft in den Schlaf gesprochen

Umfrage in den Philologien zur Hörbuchnutzung


Spannung? Abenteuer? Angenehmer Grusel? Weit gefehlt! Wer die „Drei ???“ abends im Bett hört, will nicht angeregt, sondern in den Schlaf gewiegt werden. Das ist das Ergebnis von Umfragen, die Dr. Ortwin Lämke, Leiter der Studiobühne und des Centrums für Rhetorik, unter seinen Studierenden durchgeführt hat. Die jungen Erwachsenen, die überwiegend Germanistik studieren, sind in den 1980er Jahren groß geworden und gehören damit der Generation der so genannten „Kassettenkinder“ an. Wie aber funktioniert der Zaubertrick, durch den erwachsene Menschen prompt einschlafen, wenn sie eine körperlose Stimme aus ihren Kindertagen hören?

Für Lämkes Studierende waren die Hörspiele in ihrer Kindheit nicht etwa ein Ersatz für das persönliche Vorlesen der Eltern. Vielmehr wurde beides miteinander gekoppelt: Erst lasen Mutter oder Vater aus einem Buch vor, dann wurde das Licht gelöscht und ein Abspielgerät angestellt, damit die Kinder darüber einschliefen. Diese Gewohnheit haben sie als Erwachsene beinhalten. Im Vordergrund stehen alte Gewohnheiten, nicht die Hörbücher selbst. „Klassische oder Gegenwartsliteratur, Lyrik oder das moderne Hörspiel werden von den Studierenden der Philologie kaum genutzt“, so Lämke.

Wenn sie schon den ganzen Tag konzentriert zuhören müssen, wollen sie wenigstens am Abend leichte Kost vorgesetzt bekommen. So wählen sie ganz bewusst triviale Texte, von denen sie sicher wissen, dass sie ihnen beim Einschlafen helfen. Manche haben sogar ihre alten Kassettenrekorder aufgehoben, deren Leiern zum Hörerlebnis dazu gehört. Auch die Minderheit, die literarische Lesungen bevorzugt, bleibt bei den Gewohnheiten aus der Kindheit. Hörspiele oder inszenierte Lesungen mit Musik oder O-Ton sind verpönt. Lämke erklärt: „Favorisiert wird eine möglichst sonore Stimme des Sprechers oder der Sprecherin, denn alles unerwartet Laute, jeder abrupte Wechsel kann beim Einschlafen stören.“

Beim Rezipieren eines Textes bleibt nicht allein die Stimme im Langzeitgedächtnis. Abgespeichert wird offenbar ein Komplex aus Texthören, Hörsituation und Gefühlslage. Offenbar, denn noch ist nur rudimentär erforscht, wo „spezifische Gedächtnisinhalte gespeichert sind und wie diese Inhalte anforderungsabhängig interagieren“, beschreibt die Psychologin Prof. Elke van der Meer den Stand der Forschung. Lämke schließt aus seinen Umfragen, dass Texte, Situationen, motivationale und emotionale Aspekte miteinander verschaltet werden.

So entsteht aus der wiederholten Verbindung eines neutralen Stimulus wie dem Kinderhörspiel und einer konkreten Situation eine Art Konditionierung, die noch Jahrzehnte später zuverlässig funktioniert. So zuverlässig, dass die Hörer nicht nur in ihrem eigenen Bett einschlafen, sondern auch bei öffentlichen Lesungen. Oliver Rohrbeck, die Stimme von Justus Jonas, stellte einmal fest: „Wir sind das beliebteste Schlafmittel Deutschlands“.

Aus der Stimme entsteht ein Mensch

Stimme ist eben mehr als nur aneinandergereihte Laute, sie ist so wirkmächtig, dass sie vor unserem inneren Auge eine Person entstehen lässt: „Unsere auditive Erfahrung mit Stimmen entstammt der verbalen Kommunikation mit anderen Menschen, bei der Sehen und Hören intermodal verkoppelt sind. Daher leiten wir auch unser Urteil über medial vermittelte Stimmen aus der analogen Hörerfahriung ab“, schreibt Lämke in einem Aufsatz für den Sammelband „Stimme – Medien – Sprechkunst“. Christian Brückner ist den einen als Synchronstimme von Robert de Niro in Ohr und Gedächtnis, anderen als Sprecher für die Dokumentationen von ZDF History, die sich häufig mit dem Nationalsozialismus beschäftigen. Beide Erfahrungen in Einklang zu bringen, fällt vielen Hörern schwer.

Auch wer einmal Fernsehserien mit dem originalen Ton statt in der synchronisierten Fassung gesehen hat, wird feststellen, dass Emotionen und Ereignisse eine völlig andere Färbung bekommen können. Für die abstraktere Untertitelung, die in vielen Ländern bevorzugt wird, ist zwar eine Eingewöhnungsphase notwendig, dafür entspricht das Erlebnis eher der Intention von Regisseur und Schauspielern.

Eine aktuelle Untersuchung des Psychologen Prof. Michael Kraus von der Yale University zeigt, dass die Stimme allein mehr über einen Menschen aussagt als der durch Mimik und Gestik unterstützte Gesamteindruck. Probanden sollten die Emotionen eines Gegenübers einschätzen. Das gelang ihnen besser, wenn sie nichts sehen konnten und sich auf ihr Gehör verlassen mussten. Kraus vermutet, dass viele Menschen ihren Gesichtsausdruck eher verschlüsseln können als ihre Stimme. Außerdem sei erwiesen, dass akustische und visuelle Informationen sich gegenseitig stören.

Kein Wunder also, dass die „Stunde des Wortes“ der Studiobühne seit über 50 Jahren ihre Liebhaber hat. Die Rezitation ist eben kein Theater ohne Bewegung, sondern eine eigene Kunstform – zu erleben während der Eröffnungswoche der Studiobühne am 9. und 10. April.  Wer ein Schläfchen halten möchte, sollte dies allerdings im eigenen Bett tun, denn zu hören sind nicht die „Drei ???“, sondern Texte zu „Bauen und Ruinen in der Literatur“ und „Skulpturpoetik“.

| Brigitte Nussbaum