Neuer Blick auf die turbulentesten Jahre der deutschen Geschichte

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Michael von Faulhaber um 1915

Die ersten Tagebücher Michael Kardinal von Faulhabers sind online

Jeder kann jetzt in den persönlichen Aufzeichnungen eines der bedeutendsten katholischen Kirchenfürsten des 20. Jahrhunderts stöbern: Die ersten Jahrgänge der Tagebücher Michael Kardinal von Faulhabers, Erzbischof von München und Freising 1917 bis 1952, sind in einer wissenschaftlichen Edition online zugänglich. Die beiden Leiter des Projekts – der Historiker Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und der Kirchenhistoriker Hubert Wolf von der Universität Münster – gaben am Mittwochabend in der Katholischen Akademie München den Startschuss für die Website www.faulhaber-edition.de. „Die Tagebücher bieten intime Einblicke in das Seelenleben des Erzbischofs, aber auch eine detailreiche neue Perspektive auf die turbulentesten Jahre der deutschen Geschichte“, erklärte Wolf.

Friedrich Kardinal Wetter: Kirche muss keine Angst vor der Wahrheit haben

Unterstützung erhielt das Projekt von Friedrich Kardinal Wetter, der von 1982 bis 2008 Erzbischof von München und Freising war und den Nachlass seines Vorgängers Faulhaber im Jahr 2002 der Öffentlichkeit zugänglich machte. Es sei notwendig, in die Quellen zu schauen, sagte Wetter in seinem Grußwort. Nur so könne an die Stelle von Mutmaßungen, vorgefassten Meinungen oder Polemik fundierte Erkenntnis treten. Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Kirche keine Angst vor der Wahrheit haben müsse.

Faulhaber führte seine Tagebücher mehr als vierzig Jahre lang, über alle geschichtlichen Umbrüche hinweg, im Kaiserreich, in den Weltkriegen, in der Weimarer Republik, im „Dritten Reich“, in der Besatzungszeit und in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland. Der Erzbischof habe Tag für Tag Gäste aus allen Gesellschaftsschichten empfangen, erläuterte Wirsching, Faulhaber sei das Zentrum eines dicht geknüpften Beziehungsnetzes gewesen. Ob Papst Pius XII. König Ludwig III., Hitler, Roosevelt oder Adenauer: Faulhaber habe sie alle getroffen. Zu besonders wichtigen Themen notierte er seine Überlegungen ausführlicher auf umfangreichen Beiblättern, die in der Edition ebenfalls berücksichtigt werden.

Bischofskonferenz
Faulhaber im Kreis der Bischofskonferenz 1917

Revolution und Räterepublik 1918/1919: Faulhaber schließt mit seinem Leben ab

Die Projektleiter haben sich entschlossen, zunächst Dokumente aus den besonders spannenden Umbruchszeiten der Jahre 1918 und 1919 sowie 1933 zugänglich zu machen. Der Sprecher Rudolf Guckelsberger las aufschlussreiche Notizen aus diesen Jahren vor. Am 8. November 1918 schrieb Faulhaber zum Beispiel: „Ich zelebriere mit ruhiger Ergebung. Es ist mir nur immer, als ob man mir mit einem Prügel auf den Kopf geschlagen hätte, und das Herzklopfen, das ich seit der letzten Predigt am Sonntag habe, ist nicht besser geworden. So den ganzen Tag – wenn es sich nur einmal weisen würde nach außen. Die zweite Nacht zehn Stunden geschlafen und dann wieder gefasst zum Denken und entschlossen zum Sterben.“ Am 9. November 1918, dem Tag der Abdankung Wilhelms II., wurde Faulhaber vor einer Besprechung von Weinkrämpfen geschüttelt. Am Palmsonntag des folgenden Jahres drangen zwölf Revolutionäre in sein Haus ein, durchsuchten sein Schlafzimmer und drohten, den Bischof abzuholen. Faulhaber notierte, er habe gebetet: „Herr, lass mich als Märtyrer sterben und sei bei mir in der letzten Stunde.“ Der Erzbischof, so Wolf, habe monatelang in Angst vor den Revolutionären gelebt und mit seinem Leben abgeschlossen. Auffällig sei, dass die nationalsozialistische „Machtergreifung“ Faulhaber emotional nicht so stark bewegt habe.

Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933: Faulhaber sieht „Beweis für die Macht der Juden“

Der Erzbischof hoffte Wirsching zufolge im Jahr 1933, dass die katholische Kirche im „Dritten Reich“ nicht abseits stehen müsse. Im April 1933 schrieb Faulhaber: „Also Gehorsam – nicht in passiven Widerstand, sondern Mitarbeit. Das Gute daran: Gegen Gottlosigkeit, Sittenlosigkeit.“ Den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 verurteilte Faulhaber als „Judenhetze“. Seine Tagebücher zeigen aber, dass er selbst nicht frei von Vorurteilen war. Schon die Münchener Räterepublik hatte er als „Judenrevolution“ bezeichnet. Zum schnellen Abbruch des Boykotts schrieb dann 1933: „Wenn etwas die Macht der Juden beweist, nämlich des internationalen Börsenkapitals, dann war es dieser Ausgang. Ein Beweis für die Macht der Juden!“

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Schmiererei auf einer Hauswand um 1938

Aufrüstung in den 1930er-Jahren: Faulhaber hat dazugelernt

Zugleich hielt Faulhaber aber einen engen, freundschaftlichen Kontakt zu Vertretern des Judentums. Im Juli 1933 antwortete er auf die Frage eines Rabbiners, ob ein neuer Krieg komme: „Die den letzten Krieg miterlebt haben, kennen die Schrecken eines neuen Krieges. Aber die Jugend weiß nichts davon.“ Der Erzbischof sprach sich auch gegen die allgemeine Wehrpflicht aus, die von den Nationalsozialisten 1935 wiedereingeführt wurde. Faulhabers Einstellung zum Krieg wandelte sich Wolf zufolge über die Jahrzehnte deutlich. Als junger Mann habe sich Faulhaber sehr fasziniert vom Militärischen gezeigt, und den Ersten Weltkrieg habe er als Feldprobst auch theologisch gerechtfertigt. Doch nachdem er die Schrecken des Krieges mit eigenen Augen gesehen habe, sei er Mitglied im Friedensbund der Deutschen Katholiken geworden, der sonst im deutschen Episkopat wenig Rückhalt gehabt habe. „Hier zeigt sich Faulhaber bemerkenswert lernfähig“, schloss daraus Wirsching. Es werde ein großer Vorteil der Edition sein, solche Entwicklungen über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren verfolgen zu können.

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Beiblatt in Gabelsberger-Kurzschrift von 1933

In Kurzschrift geschriebene Dokumente drohen unlesbar zu werden

Wirsching und Wolf arbeiten für die geplante Edition eng mit dem Erzbischöflichen Archiv München zusammen, das die Tagebücher verwahrt. Ihr im Oktober 2013 begonnenes und auf zwölf Jahre angelegtes Editionsvorhaben wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Im Editionsteam arbeiten Historiker, Theologen und Informatiker interdisziplinär zusammen. Sie versehen die Dokumente mit Kommentaren zu Personen und zentralen Schlagworten. Vor allem aber transkribieren sie die Tagebücher und Beiblätter aus der Kurzschrift Gabelsberger, die Faulhaber fast durchgängig verwendete. Heute kann fast niemand mehr diese stenografischen Dokumente entziffern. Damit drohen umfangreiche Bestände in deutschen Archiven für die Geschichtswissenschaft verloren zu gehen. „Es wird daher sicherlich noch zahlreichen anderen Forschungen zugutekommen, dass unser Projektteam im Entziffern der Kurzschrift geschult worden ist“, sagte Wirsching. Die Edition ermöglicht es, den Scan des Originaldokuments, die einfache Transkription und eine ausführliche, kommentierte Leseversion nebeneinander anzuzeigen. Der Umfang der zu bearbeitenden Dokumente ist enorm: Die beteiligten Wissenschaftler schätzen, dass die Tagebücher und Beiblätter zusammen fast 30.000 herkömmlichen Textseiten im DIN-A4-Format entsprechen.

Pressemitteilung als PDF-Datei zum Download

weitere Informationen zum Projekt auf der Homepage: www.faulhaber-edition.de

Bildmaterial aus dem Erzbischöflichen Archiv München auf unserer Service-Seite

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