Faulhaber-Tagebuch 1947: Flüchtlinge sollten nach Kanada auswandern

Michael Kardinal von Faulhaber
© EAM

Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sollten nach Ansicht Michael Kardinal von Faulhabers nach Kanada weiterziehen. Das zeigt der Jahrgang 1947 der Tagebücher des Erzbischofs von München und Freising, den das Forscherteam des Instituts für Zeitgeschichte München−Berlin und des Seminars für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte der Universität Münster auf der Seite www.faulhaber-edition.de veröffentlicht hat. Damit sind jetzt die Jahrgänge 1911 bis 1919, 1933 bis 1937 und 1945 bis 1947 online zugänglich.

Zu den Flüchtlingen äußerte sich Faulhaber im September 1947 bei einem Treffen mit dem parteilosen Politiker Hans Luther, der Mitte der 1920er-Jahre Reichskanzler gewesen war. Wie den Aufzeichnungen des Erzbischofs zu entnehmen ist, bestand Einigkeit darüber, eine „geschlossene Auswanderung der Flüchtlinge inclusive Eingeborener ins Ausland, Canada zunächst – unter kirchlicher Führung“ anzustreben. Auf diese Weise sollte die „Überbevölkerung“ bewältigt werden, die es vermeintlich „unmöglich“ mache, „wieder in die Höhe zu kommen“. Der Münchner Erzbischof sorgte sich vor allem wegen der Wohnungsnot in den kriegszerstörten bayerischen Städten und der anhaltend schwierigen Versorgungslage der einheimischen Bevölkerung. Er sah die Zuwanderung aber auch deswegen kritisch, weil mit ihr eine Vermischung der Konfessionen verbunden war. Wenig später nahm er Anstoß an der „Tanzwut der Flüchtlingsjugend“.

1947 spitzte sich außerdem der Fall des Weihbischofs Anton Scharnagl zu, der im Verdacht stand, für die Gestapo spioniert zu haben. Die Presse begann über die Affäre zu berichten. Um einer möglichen Verhaftung Scharnagls durch die Polizei vorzubeugen, stellte Faulhaber ihn im Februar unter Hausarrest. Das Verhältnis zur Besatzungsmacht entwickelte sich ebenfalls unerfreulich. Die US-Amerikaner wollten Begünstigungen zurücknehmen, die der katholischen Kirche aus dem Gesetz über die Bodenreform in Bayern erwachsen waren. Außerdem zeigten sie sich erbost über die Flut der „Persilscheine“, die kirchliche Würdenträger ausstellten, um die Politik der Entnazifizierung zu unterlaufen.

Faulhaber sah sich überdies als führender Repräsentant des Katholizismus dem Vorwurf ausgesetzt, die Kirche habe sich in der NS-Zeit nicht an die Seite der Juden gestellt und unterlasse es nun wieder, dem grassierenden Antisemitismus vernehmbar entgegenzutreten. Sorgen um die Zukunft der Bekenntnisschule und die Fortgeltung des Reichskonkordats von 1933 sowie die Furcht vor einem neuen Krieg belasteten den gesundheitlich angeschlagenen Erzbischof zusätzlich.

© Faulhaber-Projekt

Informationen zur Faulhaber-Edition:

Mehr als 40 Jahre lang hielt Faulhaber in seinen Tagebüchern jeden Tag seine Begegnungen mit Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten fest. Diese Quelle wird im Projekt "Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber (1911-1952)" wissenschaftlich aufbereitet und im Internet unter www.faulhaber-edition.de veröffentlicht. Die Einträge müssen dafür zunächst aus der Kurzschrift Gabelsberger übertragen werden, die heute nur noch wenige Experten entziffern können.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das auf zwölf Jahre angelegte Vorhaben seit dem 1. Januar 2014. Im Projekt arbeiten Historikerinnen und Historiker, Theologen und ein Informatiker interdisziplinär zusammen. Geleitet wird es von dem Historiker Prof. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Kirchenhistoriker Prof. Hubert Wolf von der Universität Münster. Kooperationspartner ist das Erzbischöfliche Archiv München, in dem die Tagebücher verwahrt werden.

Die Edition wird insbesondere neue Beiträge zum Verhältnis von Religion und Politik und zum Umgang der katholischen Kirche mit totalitären Ideologien ermöglichen. Gleiches gilt für innovative Forschungen zur Theologie- und Kulturgeschichte, etwa mit Blick auf personelle Netzwerke, Frömmigkeitsformen, Kriegsdeutungen, Emotionen und Geschlechterrollen im Katholizismus oder die Beziehungen zu anderen Glaubensgemeinschaften.