Prof.in Dr. Marianne Heimbach-Steins an ihrem Schreibtisch. 1996 wurde sie die erste ordentliche Theologieprofessorin in Bayern. In Münster lehrt und forscht sie seit 2009 als Professorin für Christliche Sozialwissenschaften.
© KTF | DT

„Es geht immer darum, in einen Prozess der Veränderung zu gelangen“

Im Interview blickt Marianne Heimbach-Steins auf mehr als 30 Jahre Sozialethik zurück

Prof.in Dr. Marianne Heimbach-Steins widmet sich drängenden Themen in Kirche und Gesellschaft und setzt sich dabei besonders für benachteiligte Menschen ein. Seit 2009 leitet sie das Institut für Christliche Sozialwissenschaften (ICS) an der Universität Münster, jetzt tritt sie in den Ruhestand. Am Freitag, 11. Juli, hält Marianne Heimbach-Steins um 11 Uhr ihre Abschiedsvorlesung im Audimax in der Johannisstraße 12-20. Im Interview mit unserer Fakultät erzählt sie aus ihrem erfolgreichen und erfüllten Leben als Wissenschaftlerin.


Katholisch-Theologische Fakultät: „Grenzverschiebungen und neue Blickachsen“: Warum haben Sie gerade diesen Titel für Ihre Abschiedsvorlesung gewählt? Wie zentral sind diese Begriffe für Ihre Arbeit?

Marianne Heimbach-Steins: Mit Grenzen und Grenzverschiebungen verbinde ich aus meiner Erfahrung als Sozialethikerin verschiedene Aspekte. Eine Grenzverschiebung im Fach hängt damit zusammen, dass in meiner Generation erstmals Frauen als Wissenschaftlerinnen in der Sozialethik tätig werden konnten. Das hat die Fachkultur verändert und Fragen der Geschlechterordnung auf die Tagesordnung gebracht. Eine noch umfassendere Grenzverschiebung hängt damit zusammen, dass die „soziale Frage“ inzwischen als weltweite sozialökologische Frage bearbeitet werden muss. Grenzen sind zudem Thema einer Sozialethik, die sich als politische Ethik versteht – etwa angesichts der Herausforderungen internationaler Migration und Flucht. Alle diese Aspekte haben meine Forschung und Publikationstätigkeit geprägt und auch Schwerpunkte meiner Lehrtätigkeit gebildet.

Was hat den Ausschlag für Ihr Interesse an Sozialethik gegeben?

Tatsächlich würde ich aus der Rückschau sagen, es war eine glückliche Fügung, dass ich kurz vor dem Abschluss meiner Doktorarbeit die Gelegenheit bekam, eine Stelle als Assistentin am Institut für Christliche Sozialwissenschaften hier in Münster zu übernehmen. Damit öffnete sich eine Perspektive, die ich für mich zuvor nicht als Berufsweg in Betracht gezogen hatte – eine wissenschaftliche Karriere in der Theologie erschien damals ja für eine Frau noch sehr unwahrscheinlich. Auf dieser Stelle habe ich angefangen, ein Profil als Sozialethikerin zu entwickeln, indem ich vielfältige Aspekte sozialer und globaler Gerechtigkeit studiert und mich mit dem theologischen Anspruch einer Sozialethik auseinandergesetzt habe.

Woran erinnern Sie sich nach drei Jahrzehnten besonders?

Meine ersten Jahre als Professorin in Bamberg waren geprägt durch die gesellschaftlich-politische Lage nach dem Fall der Berliner Mauer. Das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten stellte ja die ganze Gesellschaft vor immense sozioökonomische und auch soziokulturelle Herausforderungen. In dieser Phase initiierten die Kirchen einen Beratungsprozess, zu dem alle gesellschaftlichen Gruppen und Interessenvertretungen eingeladen waren. Wir Sozialethiker:innen waren daran stark beteiligt. Dieser Konsultationsprozess bildete die Grundlage, auf der das gemeinsame Sozialwort der Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ erarbeitet wurde, das im Februar 1997 erschien und das dann wieder neue Diskussionen und Verständigungsprozesse ausgelöst hat. Diese Zeit, in der es einen vielstimmigen und sehr konstruktiven Dialog darüber gab, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen, habe ich als sehr fruchtbar erlebt.

Unter den vielen wegweisenden Erfahrungen möchte ich zudem meine Berufung nach Münster im Jahr 2009 hervorheben. Etwa zur Halbzeit meiner Tätigkeit als Professorin war das eine wichtige Weichenstellung. Denn die Leitung des ICS und die Verantwortung für das „Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften“ übernehmen zu können, hat mir neue Möglichkeiten eröffnet, sozialethisch zu arbeiten, mit unseren Forschungsprojekten Sichtbarkeit zu erlangen, die Fachentwicklung mitzugestalten und in das Feld zivilgesellschaftlicher und politischer Praxis hineinzuwirken. Dafür bin ich sehr dankbar.

Für Prof.in Dr. Marianne Heimbach-Steins ist Sozialethik ein spannendes und herausforderndes Arbeitsfeld, auf das die Theologie nicht verzichten kann, wenn sie die Zeichen der Zeit entziffern will.
© KTF | DT

Warum ist es wichtig, dass sich auch die Theologie mit Sozialethik beschäftigt?

In der weitläufigen Landschaft der Theologie ist die Sozialethik eine Art Grenzland mit Durchgängen und Verbindungen zwischen Theologie, Philosophie, Sozialwissenschaften und der gesellschaftlich-politischen Praxis. Das macht sie zu einem unglaublich spannenden und herausfordernden Arbeitsfeld und zu einem fruchtbaren Gelände, auf das die Theologie nicht verzichten kann, wenn sie die Zeichen der Zeit entziffern will. Zugleich gewinnt die Sozialethik mit ihrem weiten theologischen Hinterland ein besonderes Profil: Sie hat teil an der faszinierend vielfältigen wissenschaftlichen Reflexion auf Sinn und Bedeutung der christlichen Gotteserzählung, der Botschaft von Schöpfung, Befreiung und Verheißung eines Lebens in Fülle. Die theologische Dimension erschließt Quellen einer Hoffnung, die ethisch in Deutungsangebote wie in die Kritik konkreter Verhältnisse der Ungerechtigkeit zu übersetzen ist. Darin sehe ich die Chance, den immensen Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen, ohne in Zynismus zu verfallen, aber auch ohne in einen Idealismus abzuheben, der oberhalb der Leidens- und Gewalterfahrungen konkreter Menschen schwebt.

Sie forschen seit 30 Jahren unter anderem zum Thema „Grenzen, Flucht und Migration“. Inwiefern ist das auch für die Theologie relevant?

Migration ist ein Menschheitsthema. Schon immer sind Menschen unterwegs gewesen, oft auf der Suche nach auskömmlichen Lebensbedingungen oder auf der Flucht vor Gewalt, Bedrohung, Verfolgung. Auch die Bibel und die religiösen Traditionen des Christentums sind voll davon. Heute sind unsere Gesellschaften in hohem Maß durch Migrationen geprägt. Das Thema ist konfliktträchtig, es fordert heraus, über alle Unterschiedlichkeit und Fremdheit hinweg anzuerkennen, dass es etwas gibt, das allen Menschen gemeinsam ist und ihnen ein moralisches Recht auf Dasein und Zugehörigkeit verleiht. Zugleich ist unsere Welt so eingerichtet, dass Migrationen buchstäblich an Grenzen stoßen und die Entscheidung, wer wo sein darf, nicht von den Wandernden getroffen wird, sondern von den Zielgesellschaften. Daraus entstehen komplexe rechtliche, politische und ethische Fragen. Damit muss sich eine Theologie befassen, die der Anerkennung der Menschenwürde aller verpflichtet ist und die versucht, gesellschaftliche Prozesse und Auseinandersetzungen aus der Perspektive und an der Seite derer wahrzunehmen, deren Würde und Rechte gefährdet sind.

Vor 30 Jahren waren Frauen in der Theologie Einzelfälle und Exotinnen; weibliche role models hatte meine Generation von Theologinnen nicht.
Prof.in Dr. Marianne Heimbach-Steins

Ein weiterer Ihrer großen Forschungsbereiche lautet „Geschlecht und Gerechtigkeit“. Warum hat das für Sie als Wissenschaftlerin Bedeutung?

Seit meiner Doktorarbeit habe ich mich dafür interessiert, wie die Stimmen von Frauen in der Theologie überhaupt zu Wort kommen können. Bis heute haben wir es in der Wissenschaft, in der Kirche und in der gesamten Gesellschaft mit geschlechterasymmetrischen Strukturen der Beteiligung zu tun – und daraus erwachsen Gerechtigkeitsprobleme in vielen Feldern. Das können geschlechtsbezogene Defizite der Bildungsbeteiligung und der Gesundheitssorge in Ländern des globalen Südens sein oder sozial- und familienpolitische Fragen der Arbeits- und Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern in unserer Gesellschaft oder die immer noch prekäre Anerkennung der gleichen Menschenrechte von Frauen und Mädchen sowie von Menschen mit diverser Geschlechtsidentität. Solchen Themen in der Sozialethik und in der Theologie insgesamt Raum und Gehör zu verschaffen, halte ich für eine drängende Aufgabe – umso mehr, je stärker ideologischer Gegenwind in politischen wie religiösen Kontexten weht.

1996 erhielten Sie einen Ruf an die Universität Bamberg und wurden damit die erste ordentliche Theologieprofessorin in Bayern. Wie haben Sie Ihre Arbeit in einer männlich-klerikal geprägten Sphäre erlebt?

Vor 30 Jahren waren Frauen in der Theologie Einzelfälle und Exotinnen; weibliche role models hatte meine Generation von Theologinnen nicht. In den meist rein männlich und klerikal besetzten Professorien herrschte ein gewisser Paternalismus. Heute prägen Frauen die theologische Landschaft der Fakultäten und Institute mit, sind als Forscherinnen und Lehrerinnen deutlich präsent. Allerdings sind wir weit entfernt von einer Geschlechterparität. Bei Berufungen und Mitwirkungsmöglichkeiten reichen die Erfahrungen von Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Geschlechtsidentität und der sexuellen Orientierung bis in die Gegenwart.

Sie gelten als streitbare Theologin und nehmen auch Stellung zu Rechtspopulismus oder sexualisierter Gewalt in der Kirche. Wie wichtig sind Streitkultur und Disput für Ihre Arbeit als Wissenschaftlerin?

Den Disput nicht zu scheuen, hat für mich mit intellektueller Redlichkeit und mit Fairness zu tun. Im wissenschaftlichen Austausch habe ich immer wieder sehr positiv erlebt, dass die respektvoll geführte offene Debatte zur Weiterentwicklung kontroverser Positionen und auch der Standards im Fach insgesamt führen kann.

An der Schnittstelle zwischen wissenschaftlicher Theologie und kirchlichem Lehramt haben wir harte Konflikte ausgefochten, und dort habe ich eine faire Streitkultur oft sehr vermisst. Eine prägende Erfahrung war das Memorandum „Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch“, das wir mit den Unterschriften von zunächst 144, später deutlich über 300 Kolleg:innen am 4. Februar 2011 in der Süddeutschen Zeitung publizierten. Es war unsere Reaktion auf den extrem zögerlichen Umgang der Deutschen Bischöfe mit den 2010 öffentlich gemachten Praktiken sexualisierter Gewalt durch Geistliche und eines systematischen Täterschutzes durch Kirchenverantwortliche. Offizielle kirchliche Reaktionen auf unsere Intervention waren fast ausschließlich disziplinärer Art – bis zur Androhung des Entzugs der Lehrerlaubnis. Eine Diskussion zur Sache fand nicht statt.

Mir geht es nie um pure Lust am Streit, sondern darum, Erfahrungen von Ungerechtigkeit namhaft zu machen und in die Auseinandersetzung um die Ursachen zu gehen. Es geht letztlich immer darum, Anerkennungsansprüche von Menschen in ihrer Verschiedenheit mit Argumenten zu verteidigen, Diskriminierungs- und Ausschließungstendenzen sowie Angriffe auf die Würde bestimmter Menschengruppen aufzudecken, zurückzuweisen und in einen Prozess der Veränderung zu gelangen.

An diesem Freitag halten Sie in Münster Ihre Abschiedsvorlesung. Nach 29 Jahren als Professorin: Was wünschen Sie sich für die katholische Theologie?

Die katholische Theologie wird in absehbarer Zukunft, was ihre institutionellen Ressourcen angeht, kleiner werden, aber sie muss als Stimme im Konzert der Wissenschaften hörbar bleiben, ihren Ort in der Universität kreativ und energisch bespielen – am besten in ökumenischer und interreligiöser Kooperation. Der Campus der Theologien und der Religionswissenschaft wird in Münster dazu sehr gute Voraussetzungen schaffen. Ich wünsche mir, dass unsere Theologien ihre inhaltlichen und methodischen Potentiale selbstbewusst einbringen, ihre vielfältigen Perspektiven auf religiöse Quellen und Traditionen, auf Geschichte und Gesellschaft und die Institutionen, die auf menschliches Leben und die Ökologie einwirken – im Dialog der Wissenschaften, nah an der Vielfalt menschlicher Erfahrungen, in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen und religiösen Akteuren, geschichtsbewusst und machtkritisch. Sie sind eine wichtige Stimme im Wissenschaftssystem, in den religiösen Bezugskontexten und im gesellschaftlichen und politischen Raum.

Interview: Dagmar Thiel

Ein Porträt über Marianne-Heimbach-Steins findet sich in der Unizeitung wissen|leben.