25./26. Juli 2013
25./26. Juli 2013

Rekonstruierte Wissenschaftstheorie. Ein neuer Ansatz zur Erforschung der Wissenschaftsgeschichte?

Internationale Konferenz des Zentrums für Wissenschaftstheorie
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Am Donnerstag und Freitag, den 25. und 26. Juli 2013 veranstaltete das ZfW die internationale Konferenz "Rekonstruierte Wissenschaftstheorie. Ein neuer Ansatz zur Erforschung der Wissenschaftsgeschichte?". Die Konferenz wurde von Dr. Kay Zenker organisiert. Die Sprecher waren, neben dem Organisator, Peter Hoffmann (Mainz), Dr. Chun-Fa Liu (Taipei), Prof. Dr. Walter Mesch (Münster), Prof. Dr. Alexander Fidora Riera (Barcelona), Prof. Dr. Katia Saporiti (Zürich), Dr. Markus Seidel (Münster), Dr. Dr. Stefan Seit (Mainz) und Prof. Dr. Benedikt Strobel (Trier). Das Programm der Konferenz finden Sie hier.

Den folgenden Tagungsbericht verfassten Tamara Ann Köhler und Nico Vowinkel.

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Dr. Markus Seidel

Im Einführungsvortrag widmete sich Dr. Markus Seidel vom Zentrum für Wissenschaftstheorie einigen methodischen Vorüberlegungen, die den nachfolgenden philosophiegeschichtlichen Untersuchungen eine, wie der Gastgeber Dr. Kay Zenker formulierte, wissenschaftstheoretische Erwartungshaltung entgegenstellen sollten. In seinem Vortrag „Wie der Wissenschaftstheoretiker historische Belege verwenden kann: Ein Plädoyer für eine wissenschaftliche Wissenschaftstheorie“ versuchte Seidel diesem Auftrag mit folgender Fragestellung gerecht zu werden: „Wie muss Wissenschaftstheorie rekonstruiert werden, damit Sie ein adäquates Mittel zur Erforschung der Wissenschaftsgeschichte ist?“ Angelehnt an einige wissenschaftstheoretische Überlegungen von Imre Lakatos, kam Seidel zunächst zu folgendem Schluss: Wissenschaftstheorie habe die Aufgabe eine rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte anzubieten, eine solche Rekonstruktion unterliege dann wiederum der Überprüfung durch Letztere. Anhand einer Fallstudie zur chemischen Revolution zeigte Seidel dann exemplarisch, wie Fälle von transienter Unterbestimmtheit aus der Wissenschaftsgeschichte der Wissenschaftstheorie dazu dienen können, prüfbare Hypothesen über die epistemische Relevanz von Theorienwahlkriterien aufzustellen. Alles in allem plädiert Seidel also für eine Wissenschaftstheorie, die selbst wissenschaftlich ist und ihre Theorien anhand empirischer Daten entwirft und gegenprüft. Nur eine solche philosophische Konzeption, die diese Möglichkeit zulässt, könne tatsächlich als eine wissenschaftstheoretische Konzeption rekonstruiert werden.

Nach Abschluss der methodischen Vorüberlegungen von Herrn Dr. Seidel, wurde nun in einem ersten Block philosophiegeschichtlicher Untersuchung der Frage nachgegangen, inwiefern wir in der Antike von prototypischer Wissenschaftstheorie sprechen können.

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Prof. Dr. Benedikt Strobel

Prof. Dr. Benedikt Strobel von der Universität Trier machte den Anfang und begegnete mit seinem Vortrag „Epistêmê und ihre Arten: Zum Verhältnis von Wissen und Wissenschaft bei Platon“ der Ausgangsfrage ganz konkret. Er untersuchte die platonischen Dialoge Politeia, Gorgias, Theaitetos und Philebos dahingehend, ob sich bei Platon Kriterien für die Unterscheidung von wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Wissen auffinden lassen. Insbesondere die Begriffe epistémé, techné, mathéma, methodos, pragmateia kamen ihm dabei in Verdacht, Stellen anzugeben, für welche „Wissenschaft“ oder „Wissenschaftlichkeit“ synonym gesetzt werden können – obgleich keiner dieser Begriffe von Platon explizit im Sinne von „Wissenschaft“ gebraucht wurde. Im Verlauf präziser Analyse der Primärtexte kam Strobel allerdings zu dem Fazit, dass Platon zwar notwendige Bedingungen von Wissen, nicht aber von wissenschaftlichem Wissen, formuliere: Die einschlägigen Passagen in den platonischen Dialogen ließen sich eher im Sinne einer Epistemologie, statt im Sinne einer Wissenschaftstheorie begreifen. In Anbetracht seiner Analyse konstatiert Strobel also abschließend: Platon entwickelt keinen expliziten Begriff wissenschaftlichen Wissens, er bezieht sich lediglich auf Praktiken, die wir als wissenschaftlich klassifizieren.

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Prof. Dr. Walter Mesch

Im dritten Vortrag des Tages zum Thema „Prototypische Wissenschaftstheorien der Antike“ nahm Prof. Dr. Walter Mesch von der WWU Münster die Wissenschaftskonzeption von Aristoteles unter die Lupe. Unter dem Titel „Vernunft als Prinzip der Wissenschaft. Zum Problem der Prinzipienfindung bei Aristoteles“ entfaltete Mesch zunächst die aristotelische Aufteilung der Wissenschaften in praktische, theoretische und poietische Wissenschaft. Jede Wissenschaft beziehe sich weiterhin auf Prinzipien (archai) und Ursachen (aitiai), so Mesch. Beweise gebe es nach Aristoteles allerdings nur in den theoretischen Wissenschaften (und auch dort nicht in jeder Wissenschaft), andere Wissenschaften seien dafür zu ungenau. Um aber selbst in den theoretischen Wissenschaften zu Beweisen zu kommen, bedürfe es nach Aristoteles Syllogismen, welche sich auf letzte, selbst nicht-beweisbedürftige Prämissen stützen könnten. Solche Prämissen seien dann in den Prinzipien zu finden, wobei sich Aristoteles in Hinsicht auf die Prinzipienfindung an der sokratischen Dialektik, der Prüfungskunst (Peirastik), orientiere. Aristoteles Position ließe sich also wie folgt zusammenfassen: Einsicht als Prinzip von Wissen. Mesch merkt an, das dies allerdings vom Vortragstitel „Vernunft als Prinzip der Wissenschaft“ abweiche. Inwiefern sich eine solche Auslegung wagen ließe, darauf wollte sich Mesch nicht festlegen und stellte es stattdessen zur Debatte. Wichtig erschien es ihm aber darauf hinzuweisen, dass die von Aristoteles formulierte Einsicht nicht als ein intuitives Erkenntnismoment fehlinterpretiert werden dürfte.

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Dr. Dr. Stefan Seit

Im folgenden Abschnitt der Tagung widmeten sich die Sprecher mit drei Vorträgen der wissenschaftstheoretischen Tradition, Innovation und Rezeption im Mittelalter.

In seinem Vortrag „Zwischen Lebensform und Beruf. Grundtendenzen des Wissenschaftsverständnisses im lateinischen Mittelalter“ beschäftigte sich Dr. Dr. Stefan Seit von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit dem Wandel des Wissenschaftsverständnisses und der umstrittenen Funktion der Wissenschaften im frühen Mittelalter. Wurde die Philosophie als Inbegriff der Wissenschaften bis in die Spätantike noch als Lebensform praktiziert und als persönlichkeitsbildendes Exerzitium betrachtet, gerät sie im Mittelalter in Verruf. Denn während die Religion eine Heilsperspektive für alle bietet, ermöglicht die Wissenschaft nur für einige wenige eine Glückserfahrung. Der Bezug der Wissenschaften zu praktischen Fragen scheint egoistisch übersteigert und wird kritisiert. Daraus ergibt sich eine Veränderung der Funktion der Wissenschaften. Die Wissenschaft soll ihre Relevanz nicht weiter aus der Lebenspraxis, sondern aus der Auseinandersetzung mit Autoritäten gewinnen. Wissen aus der Lebenspraxis wird dabei Mittel zum Zweck. Vor diesem Hintergrund lautet Seits These: Anstelle einer Renaissance im Sinne einer Wiedergeburt der Wissenschaften fand im lateinischen Mittelalter eine nur langsam voranschreitende Theoretisierung der Wissenschaften sowie eine Ablösung der Klöster und Domschulen durch erste Universitäten statt. Mit dieser These stellte Seit sich gegen die herkömmliche Meinung, bis zum Ende des 12. Jahrhunderts habe es keine Wissenschaft gegeben. Seit zufolge sei statt dessen vielmehr versucht worden, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft zu finden, um somit möglichst vielen Menschen eine Heilsperspektive zu geben. Trotzdem bleibt der Versuch, Wissenschaft und Religion in Einklang zu bringen ein spannungsvolles Konzept.

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Prof. Dr. Alexander Fidora Riera

Den letzten Vortrag des ersten Tages hielt Prof. Dr. Alexander Fidora Riera vom iCrea der Universität Barcelona. Er beschäftigte sich mit folgendem Thema: „Arabische Wissens- und Wissenschaftstheorie und ihre lateinische Rezeption im 12. Jahrhundert“. Nachdem in der Antike Platon und Aristoteles eine erste Einteilung der Philosophie entworfen hatten, sei diese in der Spätantike genutzt worden, um eine Einführung in die Philosophie zu geben. Das Interesse der arabischen Philosophen an dieser Einteilung setzte im 9. Jh. ein. Sie versuchten ebenfalls diese Einteilung anzuwenden und formierten mit ihrer Hilfe die Bildungseinrichtungen. Neben der Logik, Physik, Psychologie und Theologie wurde besonders der Mathematik Aufmerksamkeit zu Teil. Ihr wurde zentrale Bedeutung zugemessen. Aristoteles Aufteilung sei wiederholt aufgegriffen worden, so Fidora, was zu einer völlig anderen Aufteilung der Wissenschaften geführt habe, als wir sie kennen. Es gebe laut der arabischen Einteilung über- und untergeordnete Wissenschaften, wobei die untergeordneten Wissenschaften je nach Art der Betrachtung des Gegenstandes unterschieden würden. Betrachte man die Entwicklung der arabischen Wissenschaftseinteilung, so würden die Verflechtungen der Wissenschaften in der arabischen Wissenschaftstheorie besonders deutlich.

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Prof. Dr. Peter Hoffmann

Am Freitag eröffnete Peter Hoffmann von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz mit seinem Vortrag „Elemente einer Theorie der Wissenschaften bei Thomas von Aquin“ den zweiten Teil der Konferenz. Hoffmann arbeitet derzeit an einem Dissertationsprojekt zum Konzept der Wissenschaft bei Thomas von Aquin. Mit seinen Ausführungen konnte er unmittelbar an die letzten beiden Vorträge zur Wissenschaftstheorie im Mittelalter anknüpfen. Er selbst führte nun in die Wissenschaftskonzeption von Thomas von Aquin ein. Dieser nehme eine Unterscheidung in praktische und theoretische Wissenschaft vor, wobei letztere sich anhand des Grades der jeweiligen Abstraktion von Materie aufgliedere. Der Metaphysik käme in dieser Aufteilung die bedeutende Aufgabe zu, die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge so herauszuarbeiten, dass ein Rückgriff auf die letzten Ursachen gemäß eines hermeneutischen Zirkels möglich werde. Dieser hermeneutische Zirkel, werde bei Thomas von Aquin folglich eigens zu einer Methode der Wissenschaft.

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Dr. Chun-Fa Liu

Nach einem Querschnitt durch die Geschichte der Wissenschaftstheorie bis ins Mittelalter konzentrierten sich die Vortragenden des letzten Abschnitts der Konferenz auf die Wissenschaftstheorien der Neuzeit.

In seinem Vortrag „Die metaphysische Grundlage der Kontroverse um die lebendige Kraft“ widmete sich Dr. Chun-Fa Liu aus Taipei einigen Grundgedanken seiner Dissertation, einem Konflikt zwischen zwei Kraftbegriffen, der Bewegungsgröße von Descartes und der lebendigen Kraft von Leibniz, der seine Wurzeln in Unterschieden metaphysischer Grundideen hat. Laut Chun-Fa Liu sei diese Kontroverse nicht aufgelöst worden. Zudem ergäben sich Unklarheiten aufgrund der unterschiedlichen Bewegungsursachen bei Descartes: Einerseits sei die Kraft Ursache der Bewegung, andererseits könne auch zwischen primärer und sekundärer Bewegungsursache, zwischen Gott und den Naturgesetzen unterschieden werden. Chun-Fa Lius These lautete daher: Ontologisch betrachtet entspreche der Kraftbegriff bei Descartes der subjektiven Idee der Wirkursache. Leibniz Kraftbegriff sei ein anderer. Für ihn gehöre die Kraft zum Wesen der Substanz. Sie sei keine subjektive Idee der Ursache, die wir in die Natur hineinprojizierten, sondern real in der Natur. Aus metaphysischer Sicht beschreibe der Kraftbegriff bei Descartes etwas geistiges, das intuitiv erfasst werde. Der Leibniz’sche Kraftbegriff hingegen entstehe durch Berechnung und Ermittlung der Ursache.

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Prof. Dr. Katia Saporiti

Prof. Dr. Katia Saporiti von der Universität Zürich stellte in ihrem Vortrag „Die Sprache der Natur“ George Berkleys Metaphysik vor. Berkley bezweifelt die Existenz dessen, was Philosophen Materie oder körperliche Substanz nennen. Er bezeichnet den Substanzbegriff als leer und widersprüchlich. Vor dem Hintergrund seiner durch den Immaterialismus geprägten, idealistischen Theorie betrachtet er Ideen und Sinneseindrücke als passiv und unfähig, etwas Kausales zu verursachen. Da nur Regelmäßigkeiten, nicht aber Kausalität festzustellen seien, sei der Begriff Kausalität für die Verwendung in den Naturwissenschaften nicht geeignet. Zwar sei beispielsweise die Mechanik von großem Wert für uns, der Erkenntnis der Natur könne sie aber nicht dienen, da nur die Metaphysik Wirkursachen angeben könne. Saporiti zufolge liegt Berkleys Verdienst insbesondere darin, auf die Grenzen und Schwierigkeiten vieler grundlegender Metaphern der Neuzeit hinzuweisen.

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Dr. Kay Zenker

Den letzten Vortrag der Konferenz hielt Dr. Kay Zenker zum Thema „Von Licht, Luft und Geistern – Grundlage einer «Erkäntniß der Creaturen» bei Christian Thomasius“. Im Ausgang von Thomasius‘ Schrift Versuch vom Wesen des Geistes (1699) analysierte er den durchaus ungewöhnlichen Versuch des Initiators der deutschen Aufklärung, durch die Synthese von empirischer Wissenschaft und metaphysischen, nämlich pneumatologischen Annahmen zu anthropologischen Aussagen zu gelangen. Von John Locke’s Theorien noch unbeeinflusst, richtete sich Thomasius’ Theorie ausdrücklich gegen die Lehren sowohl der Aristoteliker als auch des Descartes und des Gassendi. Thomasius ging es insofern um die Überwindung sowohl alter als auch neuer Theorien zur Naturerkenntnis, die – seiner Ansicht nach fälschlicherweise – die Pneumatologie, vor allem die notwendige Prämisse der Existenz eines allgemeinen und tätigen Geistes, ‚beiseitesetzen‘ und sich sämtlich in Widersprüchen verfingen. In diesem Zusammenhang formuliert Thomasius Regeln richtiger wissenschaftlicher Praxis und kritisiert zudem schon sehr früh die experimentelle Wissenschaft als in prinzipieller Hinsicht unzureichend begründet und – modern gesprochen – wissenschaftstheoretisch problematisch. Insofern liefert Thomasius nicht nur ein alternatives Konzept sowohl zum Substanzdualismus als auch zum Materialismus, sondern entwickelt ein – wenngleich problematisches – theoretisches Fundament der empirischen Wissenschaft und, in einem abschließenden Schritt, der Metaphysik einschließlich der Theologie.

Dsc 6373

Die Konferenz wurde mit einer Diskussion der Ergebnisse der Einzelbeiträge abgeschlossen. Dabei ist u.a. die Schwierigkeit diskutiert worden, die sich bei Fragen der ideengeschichtlichen Abhängigkeit unterschiedlicher Autoren und ‚Schulen‘ voneinander ergibt. Ferner wurde die noch nicht hinreichende Berücksichtigung mittelalterlich-scholastischer Wissenschaftskonzepte bei der Rekonstruktion der Geschichte der Wissenschaftstheorie betont; dies gilt sowohl für die Tradition der ‚abendländischen‘ Scholastik als auch für den Einfluss jüdischer und arabischer Konzepte, wobei beide Aspekte in vielen Fällen nicht klar voneinander zu trennen sind. Hinzu kommt der Umstand, dass diese Konzepte praktisch ausnahmslos nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung antiker wissenschaftstheoretischen Ansätze (v.a. Platon und Aristoteles) analysiert werden können, da letztere i.d.R. – trotz aller durchaus zu beobachtenden Innovationsfähigkeit – als Standardreferenz mittelalterlicher Wissenschaftskonzeptionen dienten. Als für die Weiterführung der Forschungen besonders anregend haben sich zudem die Fallstudien zur Frühneuzeit erwiesen, da hier in auffälligem Maß nicht nur beobachtet werden konnte, dass fundamentale wissenschaftstheoretische Fragen und Konzepte z.T. in unterschiedlichen nationalen Kontexten und nicht selten auch mit signifikanten zeitlichen Verschiebungen zwar unabhängig voneinander diskutiert worden sind, die Lösungsversuche sich aber, trotz einer bezüglich ihrer Genese anzunehmenden wechselseitigen Unabhängigkeit, in etlichen, durchaus zentralen Punkten in auffälliger Weise nahekommen. Auch dieses Phänomen näher zu untersuchen, bietet einen weiterführenden Ansatz für die Rekonstruktion wissenschaftstheoretischer Konzepte auf breiter geographischer wie chronologischer Ebene.