„Kirchen profitieren von säkularen Kulturen“

Historiker Lucian Hölscher über Religion und Säkularität in der modernen Gesellschaft

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Prof. Dr. Lucian Hölscher
© maz

Zum Abschluss der Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“ am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ hat der Historiker Prof. Dr. Lucian Hölscher über Religion und Säkularität in der modernen Gesellschaft gesprochen. „Im Konkurrenzkampf zwischen Religion und Säkularität hat sich heute ein gewisses Patt eingestellt“, sagte der Wissenschaftler. „Keine Seite kann für sich die Suprematie beanspruchen.“ So bilde der Säkularismus nicht mehr den „universalistischen Hintergrund für die Konkurrenz religiöser Weltdeutungen“, ebenso wenig könne Religion noch überzeugend als „gemeinsame Plattform“ für säkulare und religiöse Gruppen auftreten.

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Ton-Mitschnitt des Vortrags

Zur Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Säkularität nahm der Historiker verschiedene begriffliche Dimensionen von Säkularisierung in den Blick, die eine „verfassungsrechtliche, eine differenzierungssoziologische und eine kirchen- beziehungsweise religionskritische Bedeutung“ hätten. Die Begriffe verwiesen auf eine Wirklichkeit, die, wie sie selbst, „vieldeutig und vielschichtig“ sei.

In seinen begriffsgeschichtlichen Ausführungen erläuterte der Historiker, dass „geistig“ und „weltlich“ in der Frühen Neuzeit und im Mittelalter „komplementäre Positionen innerhalb eines einheitlichen politisch-religiösen Weltbildes“ gewesen seien. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts stünden die Begriffe dann für eine „wechselseitige Exklusion“ von Religion und Kirche auf der einen und Staat und Gesellschaft auf der anderen Seite.

„Karriere des Säkularitätsbegriffs“

Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts machte der Wissenschaftler eine „Karriere des Säkularisierungsbegriffs“ aus. Diese sei auch mit einer gesellschaftspolitischen Öffnung der christlichen Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären. Im Laufe der 1950er und 1960er Jahre hätten die Kirchen zunehmend beansprucht, aktuelle politische Themen nicht nur für Kirchenmitglieder, sondern für die gesamte Gesellschaft aufzubereiten. “Von der Gewerkschafts- und Friedensbewegung bis zur Umwelt- und Frauenbewegung: Kirchlich engagierte Gruppen arbeiteten hier mit bürgerlichen zusammen.“

Zivile Protestbewegungen fanden dem Historiker zufolge in dieser Zeit in der religiösen Tradition der Kirche eine „willkommene geistige Fundierung“, kirchliche Reformgruppen in der zivilen Bürgergesellschaft wiederum eine neue „Relevanz und Akzeptanz“ für ihre christlichen Botschaften. „Seit den 1960er Jahren bezeichnet ‚Säkularisierung‘ nicht mehr nur den Schwund, sondern auch die Erneuerung von Religion, nicht bloß die institutionelle Trennung von Staat und Kirche, sondern auch eine neue Form ihrer Zusammenarbeit und wechselseitigen Beziehung aufeinander.“

Der Vortrag mit dem Titel „Religion und Säkularität in der modernen Gesellschaft“ schließt die Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“. Am 10. Mai startet am gleichen Platz die öffentliche Ringvorlesung des Exzellenzclusters. Sie trägt den Titel „Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland“. Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr in Hörsaal F2 im Fürstenberghaus am Domplatz 20-22 in Münster zu hören.

Prof. Dr. Lucian Hölscher bleibt während des gesamten Sommersemesters am Exzellenzcluster in Münster und arbeitet an seinem zweiten Band zur „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit“. In den kommenden Semestern werden weitere renommierte Forscherinnen und Forscher aus wechselnden Disziplinen auf die Gastprofessur berufen, etwa aus der Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ethnologie und Rechtswissenschaft. Die „Hans-Blumenberg-Gastprofessur für Religion und Politik“ soll dazu beitragen, innovative Impulse aus der internationalen Forschung nach Münster zu bringen, und die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ stärken. Prof. Dr. Lucian Hölscher ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte und Theorie der Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) und seit 2008 Vorstandsmitglied des Käte-Hamburger-Kollegs „Dynamics of Religion Between Asia and Europe“ der RUB, das die Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa untersucht. Dort leitet er den Themenbereich 3 „Die Entstehung des Religionsbegriffs“. (maz/vvm)