„Nordirland ist immer noch ein Pulverfass“

Historiker André Krischer zu den Unruhen in Belfast

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Juniorprof. Dr. André Krischer

Seit Tagen halten gewalttätige Ausschreitungen die nordirische Hauptstadt Belfast in Atem. Auslöser der Unruhen im zu Großbritannien gehörenden Teil der irischen Insel war eine Entscheidung des Stadtrates, die britische Flagge, den Union Jack, am Rathaus nur noch zu bestimmten Anlässen zu hissen. Probritische Protestanten sehen darin eine weitere Lösung der Provinz von London. Der Juniorprofessor für die Geschichte Großbritanniens und des Commonwealth, Dr. André Krischer, vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster erläutert im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA), welche Rolle die Religionen in den aktuellen Auseinandersetzungen heute noch spielen.

Der Nordirland-Konflikt hat nicht zuletzt auch religiöse Wurzeln. Welche Bedeutung haben Katholizismus und Protestantismus dort heute?

Die Religion stiftet immer noch Identität. Die Menschen verstehen sich entweder als Katholiken oder als Protestanten. Der Konflikt dreht sich aber nicht mehr wie früher um Glaubenswahrheiten.

Haben dadurch die Kirchen Spielraum gewonnen, mäßigend auf die Konfliktparteien einzuwirken?

Ja. Die Kirchen haben nicht das geringste Interesse daran, dass der Konflikt wieder aufflammt. Die Frage bleibt allerdings, welchen Einfluss sie tatsächlich auf die Akteure haben. In jedem Fall gießen Amtsträger beider Seiten kein Öl ins Feuer. Eine neue Rolle spielt aber auch das Internet und die sozialen Netzwerke, über die Bedrohungs- und Verschwörungstheorien verbreitet werden.

Wer kann dann für Frieden sorgen?

Es kommt auf die Politiker an. Sie müssen eine Spirale der Gewalt verhindern und aufhören, Ängste zu schüren. Sie sollten zudem noch sensibler für die Symbole der beiden Seiten werden, schließlich hat sich der aktuelle Konflikt an der britischen Fahne auf dem Belfaster Rathaus entzündet. Und sie müssen den Leuten auf der Straße deutlich machen, dass Gewalt keine Lösung ist. Das ist schwierig, zugegeben. In Nordirland kommt einiges zusammen, was den Volkszorn anstachelt. Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit sorgen bei vielen für große Frustration und tragen zu einem Mangel an Perspektiven bei.

Gibt es hier einen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten?

Die Protestanten fürchten, gegenüber den Katholiken nicht nur demografisch, sondern auch hinsichtlich der Berufschancen ins Hintertreffen zu geraten. Diese Befürchtung ist sicherlich übertrieben. Sie zeigt aber, wie schnell sich längst zugeschüttet geglaubte Gräben wieder öffnen können, aus denen dann auch Gewalt herausschwappt.

Ist das sogenannte Karfreitagsabkommen von 1998, das den Frieden zwischen den Konfliktparteien sichern soll, gefährdet?

Das ist schwer zu sagen. Die Art wie die britische Presse und die dortigen Experten dies beurteilen, liefert aus meiner Sicht Anlass zu allergrößter Sorge. Ich bin kein Wahrsager - aber Nordirland ist nach wie vor ein Pulverfass. Wenn dort jetzt noch ein paar Dinge falsch laufen, dann wird das Friedensabkommen schnell zum Papiertiger. Auch wenn es vermutlich keine Wiederkehr des IRA-Terrors geben wird, so dürfte die Rückkehr jener Gewalt, wie wir sie jetzt beobachten können, ausreichen, um Perspektiven für ein friedliches und wirtschaftlich stabiles Nordirland zur Illusion werden zu lassen. (Barbara Mayrhofer, KNA)

Mit freundlicher Genehmigung der Katholischen Nachrichten-Agentur