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„Ich mag es, neue Blickwinkel zu finden“

Im Labor mit Prof. Erez Raz / Interviewreihe des Exzellenzclusters "Cells in Motion"
Prof. Dr. Erez Raz ist Mitglied des Exzellenzclusters "Cells in Motion" und Direktor des Instituts für Zellbiologie.
© Uni MS/Michael Kuhlmann

Herr Prof. Raz, mit welcher wissenschaftlichen Frage beschäftigen Sie sich aktuell?

Unser generelles Ziel ist es zu verstehen, wie sich Zellen im Körper eines Lebewesens fortbewegen. Wir sehen uns bestimmte Zellen während der Embryonalentwicklung an, Keimzellen genannt. Das sind die Gründerzellen jedes sich sexuell fortpflanzenden Organismus; aus ihnen werden später Spermien oder Eizellen. Keimzellen entstehen an einer bestimmten Stelle im Embryo und bewegen sich dann zu einem anderen Ort. Dort schließen sie sich zusammen, interagieren mit anderen Zelltypen und bilden ein Organ, die Keimdrüse. Wir versuchen, zu verstehen, was diese Wanderung beeinflusst. Dazu arbeiten wir mit Zebrafischen. Ein Vorteil des Zebrafischs ist, dass sich der Embryo außerhalb des Mutterleibs entwickelt. Außerdem sind die Embryonen durchsichtig und dadurch die Zellen gut erkennbar. So können wir die Entwicklung im Körperinneren „live“ beobachten. Diese grundlegenden Erkenntnisse nutzen wir als ein Modell für verschiedene Organismen, darunter Organismen, die weiterentwickelter sind als Zebrafische. Darüber hinaus haben unsere Forschungen einen klinischen Aspekt: Bei Krebs oder Entzündungen zum Beispiel verhalten sich Zellen anders, als sie eigentlich sollten. Zu verstehen, wie sich Zellen im Normalfall bewegen, hilft uns zu begreifen, aus welchem Grund sie sich bei Krankheiten ungewöhnlich verhalten und nach Lösungen zu suchen.

Was macht Sie als Wissenschaftler persönlich aus?

Ich versuche, unsere sehr klassischen Fragestellungen aus neuen Blickwinkeln heraus zu betrachten. Dabei mag ich es auch, meine Meinung zu ändern und völlig offen für die Nutzung neuer, experimenteller Ansätze zu sein. Mir gefällt es, herauszufinden, wie Dinge wirklich funktionieren. Mein zweites großes Anliegen ist es, Doktoranden auszubilden – sie über Jahre zu begleiten, ihre Entwicklung zu beobachten und zu diesem Prozess beizutragen.

Was ist Ihr liebstes technisches Forschungsspielzeug und was kann es?

Wir nutzen hauptsächlich verschiedene Arten von Mikroskopen, mit denen wir Prozesse im lebenden Organismus in hoher Auflösung beobachten können. Eine Lieblingstechnik habe ich aber nicht, da es meiner Meinung nach nicht die eine Technik gibt. Ein Beispiel: Wenn man ein mikroskopisch erzeugtes Bild oder Video hat, kann man viel mehr daraus lernen, wenn man es mit mithilfe von mathematischen Verfahren analysiert. Es ist immer die Kombination von verschiedenen Feldern, die gute und innovative Wissenschaft ausmacht.

Erinnern Sie sich an Ihren größten Glücksmoment als Wissenschaftler?

Ich würde sagen, es waren zwei Momente, die mich besonders glücklich gemacht haben. Der eine war, als wir herausfinden konnten, dass bestimmte Stellen im Embryo eine wichtige Rolle bei der Zellwanderung spielen. Als wir entdeckten, dass dort etwas sein muss, das die Zelle an ihren richtigen Ort lockt. Der zweite Glücksmoment war, als wir herausgefunden haben, welches Molekül als Signalgeber für diesen Prozess verantwortlich ist.

Und wie sah Ihr größter Frustmoment aus?

Manchmal ist es unvermeidlich, dass man in bestimmte Richtungen geht und am Ende feststellen muss, dass sie nirgendwo hinführen. Manchmal finden wir zum Beispiel Moleküle, die in einem spannenden Muster im Gewebe in Erscheinung treten oder innerhalb von Zellen vorkommen, die für uns interessant sind. Wir glauben also, dass sie eine wichtige Rolle einnehmen. In manchen Fällen müssen wir allerdings feststellen, dass das Molekül keine bemerkenswerte Funktion hat. Das ist nur ein Beispiel für sehr frustrierende Momente – sowohl für mich als auch die Doktoranden. Aber damit müssen wir als Wissenschaftler leben.

Welches wissenschaftliche Phänomen begeistert Sie heute noch regelmäßig?

Natürlich bin ich fasziniert von allem, was wir hier tun, aber ich glaube, es gibt nichts in der Wissenschaft, das nicht faszinierend ist. Denn alles ist mit allem verbunden. Wenn ich sage, mich interessieren nur die Streifen des Zebrafischs und ich mich nicht für andere wissenschaftliche Disziplinen interessiere, werde ich nicht weiterkommen. Natürlich weiß ich mehr über Biologie als über andere Wissenschaften, aber ich versuche sie zu verstehen – in erster Linie, wenn ich mit Mathematikern, Physikern und Chemikern zusammenarbeite.

Auf welche große ungelöste wissenschaftliche Frage hätten Sie gerne eine Antwort?

Die großen Fragen, die ich mir stelle, sind nach wie vor: Was bringt Zellen dazu, von einer Stelle zur anderen zu wandern? Und was sorgt dafür, dass sie am Ende an einem bestimmten Zielort bleiben? Ich habe bereits Antworten auf einen kleinen Teil dieser Fragen, aber bin noch weit davon entfernt, ein vollständiges Bild davon zu haben. Je weiter man kommt, desto mehr Fragen tauchen auf, von denen man noch nicht einmal wusste, dass sie existieren. Alle wissenschaftlichen Fragen vollständig zu beantworten, ist überaus schwierig, wenn nicht praktisch unmöglich.

Wie viel Kunst, Kreativität und Handwerk steckt in Ihrer Wissenschaft?

Ich denke, unsere Kreativität ist es, verschiedene Ansätze und Techniken miteinander zu kombinieren, um neue Dinge herauszufinden. Unser Handwerk besteht allerdings nicht darin, zum Beispiel neue Geräte zu bauen. Es ist wie bei einem Architekten: Er baut die Wände nicht selbst, sondern entwirft ein neues Gebäude mit den verfügbaren Materialien. Und ob unsere Wissenschaft Kunst ist? Ich glaube, auf eine gewisse Weise bestimmt, allerdings sehr viel eingeschränkter als die „klassische“ Kunst. Ich kann meiner Fantasie nicht uneingeschränkt freien Lauf lassen, weil die Realität mich leitet und korrigiert.