4. Oktober 2011

Zur Natur des Geistes. Wissenschaftstheoretische und metaphysische Perspektiven

Rund 30 Studierende, wissenschaftliche Mitarbeiter und Professoren der WWU kamen am 4. Oktober 2011 zum Tagesworkshop "Zur Natur des Geistes – Wissenschafts-theoretische und metaphysische Perspektiven" zusammen. Auf der Agenda standen acht lebhaft diskutierte Vorträge, die sich aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven mit der Natur des Geistes befassten. Dabei standen sowohl systematische wie historische Zugänge im Vordergrund.

Den Einstieg erbrachte Prof. Dr. Walter Mesch mit einem Vortrag zur platonischen Philosophie des Geistes und insbesondere zu den Debatten um den Dialog "Phaidon". Zwar werde letzterer häufig als ein Beleg für einen Substanzdualismus gelesen, wie ihn später etwa Descartes vertreten habe. Neuere Ansätze in der Philosophie interpretierten die von Platon hier entwickelte Theorie des Geistes jedoch unter Einbeziehung weiterer Textstellen im Sinne eines Eigenschaftsdualismus oder eines Hylemorphismus nach aristotelischem Vorbild. Herr Mesch diskutierte diese Ansätze und prüfte ihre Überzeugungskraft im Vergleich zur traditionellen Lesart.

Dr. Eva-Maria Jung ergänzte diesen Ausflug in die antike Philosophie des Geistes durch einen Blick auf die aristotelische Position. Dafür grenzte sie zunächst die Gegensätze des Substanzdualismus und des Reduktiven Physikalismus voneinander ab und stellte als Alternativen neuere funktionalistische Theorien vor, die sich zumeist auf die Idee einer multiplen Realisierbarkeit mentaler Zustände berufen. Danach brachte sie Aristoteles ins Spiel, der das Verhältnis zwischen Körper und Seele anhand der Unterscheidung von Materie und Form beschreibt: Beide könnten nicht getrennt voneinander gedacht werden. Sie bildeten aber auch keine voneinander unabhängigen Entitäten. Frau Jung diskutierte, inwiefern der so beschriebene Hylemorphismus als eine Mittelposition zwischen Substanzdualismus und Reduktivem Physikalismus verstanden werden kann und somit in die Nähe des modernen Funktionalismus rückt.

Ins Mittelalter versetzte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anschließend Prof. Dr. Peter Nickl, indem er von den Deutungen der Seele und der Subjektivität bei Thomas von Aquin und Petrus Johannes Olivi berichtete. Beide Autoren sähen in der Reflexivität das entscheidende Merkmal des menschlichen Geistes. Die Argumentation für die Immaterialität des Geistes (oder der Seele) werde sogar in der jüngeren Philosophie des Geistes, etwa durch Roderick Chisholm, wieder aufgenommen. Die Positionen von Thomas von Aquin und Petrus Johannes Olivi gleichen sich nach Nickl in vielen Punkten, weisen aber unterschiedliche Akzentuierungen auf: Reflexivität und Freiheit liegen für Thomas im Intellekt, für Olivi hingegen im Willen begründet (der im Mittelalter auch als "affectus" bezeichnet wurde). Dementsprechend stehe einer intellektualistisch ausgerichteten Subjektivitätsphilosophie, die sich in der Neuzeit entfaltet habe (vgl. etwa Descartes' "cogito, ergo sum") die voluntaristische Philosophie Olivis gegenüber, die auf dem Grundsatz "amo, ergo sum" beruhe – und die uns laut Herrn Nickl auch heute noch in der Philosophie des Geistes interessieren sollte.

Einem Autoren der frühen Neuzeit widmete sich Prof. Dr. Peter Rohs mit seinem Vortrag zu Spinozas Theorie des Geistes. Spinozas Isomorphismus biete einen Lösungsvorschlag für die Probleme des cartesianischen Substanzdualismus und der mentalen Verursachung. Seine These sei, dass es letztlich nur eine Substanz im Sinne einer "res extensa" gebe, nämlich Gott. Die Geschlossenheit des Physischen bleibe so bestehen, wobei aber die Relevanz des Psychischen nicht aufgegeben werde. Physische und mentale Prozesse liefen parallel ab und wirkten nicht direkt aufeinander ein.

Aus naturwissenschaftlicher Perspektive begegnete Dr. Kim J. Boström dem Problem der Subjektivität. In seinem Vortrag "Mein Schmerz – Dein Schmerz" thematisierte  er die verschiedenen Verwendungsweisen von Schmerzbegriffen und insbesondere den irreduzibel subjektiven Charakter von Schmerzerlebnissen. Boström betonte dabei, dass es für die Naturwissenschaften immer noch weitgehend unmöglich sei, die subjektive Qualität von individuellem Schmerz zu erfassen.

Prof. Dr. Dr. Peter Hucklenbroich stellte daraufhin die Frage: "Gibt es kranke Seelen?" und entwickelte eine Antwort aus der Perspektive der Medizin. Er stellte Grundbegriffe des medizinischen Verständnisses von Krankheit vor und kam zu dem Ergebnis, dass es inadäquat sei, den Begriff der Krankheit  auf die menschliche Seele allein anzuwenden. Krankheiten seien immer auf den ganzen Menschen bezogen, nie nur auf seinen Körper oder nur auf seine Seele.

Dr. Jan G. Michel regte eine lebhafte Diskussion an, die die Kernfrage der Veranstaltung betraf, nämlich: "Sind geistige Zustände Gehirnzustände?". Herr Michel unterschied zwei Varianten der Identitätstheorie des Geistes und untersuchte deren Tragweite. Eine Form der Identitätstheorie führe alles Geistige auf Physikalisches zurück, eine andere setze hingegen das Geistige als das Grundlegende an und versuche, alles Physikalische auf dieses zurückzuführen.

Dr. Kai Schreiber betrieb schließlich "Geistaustreibung": Durch eine Reihe von Beispielen und Experimenten aus der empirischen Forschung versuchte er zu zeigen, inwiefern aus Sicht der Neurowissenschaften die Unabhängigkeit des Geistigen gegenüber dem Physischen, ja, die Existenz eines "Ich" überhaupt, als widerlegt angesehen werden kann.

Eine für alle Teilnehmer gewinnbringende, von lebhafter Beteiligung und guter Verpflegung lebende Veranstaltung ging damit zu Ende und es folgte ein gesellig-inoffizieller Teil beim Abendessen.

Organisation: Dr. Eva-Maria Jung, Dr. Jan G. Michel
Bericht: Daniel Bambach

Das Programm zur Tagung finden Sie hier.