11./12. September 2012
Erweiterter Geist - Tagungsplakat Klein

Ist der Geist im Kopf? Die These des erweiterten Geistes in Philosophie und Wissenschaft


Am 11. September (9-18 Uhr) und am 12. September (9-16 Uhr) 2012 veranstaltete das ZfW eine Tagung zum Thema "Ist der Geist im Kopf?". Sie wurde von Dr. Kim J. Boström und Dr. Jan G. Michel organisiert. Tagungsort war der Festsaal im Schloss. Die Sprecher waren neben den Veranstaltern Prof. Dr. Volker Gadenne (Linz), Prof. Dr. Andreas Hüttemann (Köln), Prof. Dr. Holger Lyre (Magdeburg), Michael Pohl (Rostock), Dr. Raphael van Riel (Bochum), Prof. Dr. Gottfried Vosgerau (Düsseldorf) und Dr. Arnold Ziesche (Leipzig). Das Programm der Tagung finden Sie hier

Der folgende Bericht wurde von Dr. Kim Joris Boström und Dr. Jan G. Michel verfasst. 
 

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Begrüßung und Einführung: Dr. Kim Boström und Dr. Jan G. Michel

Im Jahre 1998 verblüfften Andy Clark und David Chalmers die philosophische Gemeinschaft mit der These, dass Gegenstände der Umwelt unter bestimmten Voraussetzungen nicht bloß als Werkzeuge für den menschlichen Geist aufgefasst werden können, sondern sogar als Erweiterungen desselben. In einem in der Zeitschrift Analysis publizierten Aufsatz stellten die beiden Autoren ihre These des erweiterten Geistes vor, woraufhin sich eine rege und kontroverse Debatte entwickelte.

Clark und Chalmers vertreten einen über den üblichen Externalismus hinausgehenden aktiven Externalismus. Danach können Teile der Umwelt eines Individuums Erweiterungen seines Geistes darstellen, wenn sie eine aktive kausale Rolle in der kognitiven Tätigkeit des Individuums spielen. »Aktiv« weist darauf hin, dass die kausale Verbundenheit symmetrisch ist, d.h., dass nicht nur der in Frage kommende Teil der Umwelt auf die Handlungen und Überzeugungen des Individuums kausalen Einfluss hat, sondern dass ebenso in der umgekehrten Richtung das Individuum durch seine Handlungen und gestützt auf seine Überzeugungen in bestimmter Weise auf den besagten Teil der Umwelt Einfluss nimmt. So ein kausal gekoppeltes System sei dann insgesamt als kognitives System anzusehen. In Anlehnung an Putnams Slogan »Meaning just ain’t in the head« spitzen Clark und Chalmers ihre Auffassung folgendermaßen zu: »Cognitive processes ain’t (all) in the head!«.

Ziel der Tagung war es zum einen, die These des erweiterten Geistes hinsichtlich ihrer Bedeutung für gegenwärtige Debatten der analytischen Philosophie des Geistes zu beleuchten. Zum anderen sollten Implikationen der These des erweiterten Geistes für andere Bereiche der Philosophie, für die Wissenschaftstheorie sowie für verschiedene Einzelwissenschaften, insbesondere die Neuro- und Kognitionswissenschaften herausgestellt werden. Im Folgenden werden die Beiträge kurz zusammengefasst.

 
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Dr. Jan G. Michel (Münster) - Extended Mind: Was ist eigentlich mit »Mind« gemeint?

Im ersten Beitrag zur Tagung, in dem auch das Ziel verfolgt wurde, grundlegend und anschaulich ins Tagungsthema einzuführen, ging Jan G. Michel der Frage nach, wie der Ausdruck »Mind« in der englischsprachigen Debatte um den erweiterten Geist zu verstehen ist. Dazu erläuterte Michel erst die Grundidee der These des erweiterten Geistes anhand von Beispielen und traf dann eine Reihe von begrifflichen Unterscheidungen, und zwar u.a. die grundlegende Unterscheidung von »Qualitativität«, »Subjektivität« und »Intentionalität« und die für die Debatte zentralen Unterscheidungen von »Vehikel« und »Gehalt« sowie von »Internalismus« und »Externalismus«. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidungen bot Michel eine sinnvolle Lesart von »Mind« sowie der These des erweiterten Geistes an: Michel zufolge ist erstens mit »Mind« weder Qualitativität noch Subjektivität gemeint und zweitens geht es nur unter der zusätzlichen Annahme eines Gehalt-Internalismus um intentionalen Gehalt. Mit »Mind« seien lediglich funktionalisierbare informationsverarbeitende kognitive Prozesse gemeint.

 
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Michael Pohl (Rostock) - Erweiterter Geist – erweitertes Selbst?

Michael Pohl griff in seinem Beitrag eine Reihe der Begriffsunterscheidungen auf, die Michel zuvor getroffen hatte, und ergänzte sie u.a. um die Unterscheidungen von »Typ« und »Token«, »Identität« und »Supervenienz« sowie von »subpersonal« und »personal«, um so der Frage nachgehen zu können, was aus den Überlegungen zum erweiterten Geist für die – bereits von Clark und Chalmers 1998 angedachte – Frage nach einem erweiterten Selbst folgt. Dazu widmete sich Pohl insbesondere dem so genannten »mereologischen Argument«, das von Eric Olsen vorgebracht wurde, um zu zeigen, dass die Grenzen von Subjekten neben ihren biologischen Körpern auch beispielsweise Notizbücher umfassen können. Pohl hinterfragte Olsens Argumentation in verschiedener Hinsicht kritisch und zeigte auf, dass neben einer Reihe von begrifflichen Fragen insbesondere die beiden folgenden Beziehungen geklärt werden müssen, um die Frage beantworten zu können, was aus der Annahme eines erweiterten Geistes für das Selbst folgt: Zum einen müsse Pohl zufolge die Beziehung zwischen mentalen Zuständen und Vehikeln, zum anderen zwischen mentalen Zuständen und einem Subjekt, einer Person oder einem Selbst geklärt werden.

 
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Prof. Dr. Volker Gadenne (Linz, A) - Hat der Geist einen Ort? Kritische Bemerkungen zur These des erweiterten Geistes

Volker Gadenne widmete sich vor dem Hintergrund einiger Voraussetzungen der Frage, ob der Geist einen Ort hat. Es handelte sich dabei kurz zusammengefasst um die folgenden sechs Voraussetzungen: Erstens gebe es zwar eine physische Substanz, jedoch keine mentale, zweitens seien mentale Eigenschaften real, drittens seien mentale Eigenschaften nicht auf physische reduzierbar, viertens supervenierten mentale Eigenschaften auf physischen, fünftens gebe es bewusste und unbewusste kognitive Prozesse und sechstens könne von einem Selbst gesprochen werden, wenn ein Mensch über die Erste-Person-Perspektive verfügt. Vor dem Hintergrund dieser Voraussetzungen kam Gadenne zu der These, dass das Mentale im Sinne der Gesamtheit der mentalen Eigenschaften nicht räumlich lokalisiert und daher weder im Kopf noch außerhalb lokalisiert ist. Jedoch ließen sich Gadenne zufolge auch angesichts dieses Ergebnisses noch verschiedene Fragen sinnvoll stellen. So erläuterte er u.a. seine Überzeugung, dass es möglicherweise sowohl elementare kognitive Prozesse als auch mentale Zustände mit einer physischen Supervenienzbasis gibt, die teilweise oder ganz außerhalb des biologischen Organismus lokalisiert sind.

 
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Prof. Dr. Gottfried Vosgerau (Düsseldorf) - Die explanatorische Rolle von Repräsentationen: Implikationen für eine »Verortung« des Geistes

Befürworter wie Gegner der These des erweiterten Geistes (TEG) sind sich im Allgemeinen einig, dass der Funktionalismus die TEG impliziert. Gottfried Vosgerau argumentierte, dass jede Spielart von Funktionalismus eine klare Unterscheidung zwischen Inputs und Outputs voraussetzt. Daher ist auch implizit eine klare Unterscheidung zwischen einem »Innen« und einem »Außen« der beschriebenen Systeme vorausgesetzt, wenn auch nicht ausdrücklich angegeben. Dieses Ergebnis widerspricht aber der TEG, so dass nach Vosgerau die TEG nicht aus dem Funktionalismus folgt, sondern ihm tatsächlich widerspricht. Weiterhin argumentierte Vosgerau dafür, dass das explanatorische Ziel der Kognitionswissenschaft die Erklärung von flexiblem Verhalten ist, dieses aber gerade so definiert ist, dass unter gleichen Bedingungen unterschiedliche Reaktionen erfolgen können, die dann nur auf »interne« Faktoren zurückgeführt werden können. Unter dieser plausiblen These ergibt sich, dass die TEG entweder falsch ist, oder (wenn sie wahr ist) es nicht mehr angegeben werden kann, was sie überhaupt erklärt (bzw. erklären soll).

 
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Dr. Raphael van Riel (Bochum) - Der Status der These des erweiterten Geistes: Explikation oder Analyse?

Die These des erweiterten Geistes (TEG) hat Raphael van Riel zufolge vor allem deshalb für Aufsehen gesorgt, weil sie in einer buchstäblichen Lesart einer grundlegenden metaphysischen Intuition zu widersprechen scheint, nämlich der Intuition, dass der menschliche Geist, sofern überhaupt räumlich lokalisiert, im Körper lokalisiert sein muss (KL). In seinem Beitrag argumentierte van Riel, dass an dieser Stelle kein Widerspruch vorliegt. Das liegt seiner Ansicht nach daran, dass der Ausdruck »Geist« in der Formulierung von TEG anders verwendet wird als in der Formulierung von KL – die zwei Verwendungsweisen verhalten sich van Riel zufolge zueinander wie Explikat und Explikandum im Sinne Quines bzw. Carnaps.

 
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Prof. Dr. Andreas Hüttemann (Köln) - Kausalität und Konstitution

In seinem Beitrag stellte Andreas Hüttemann heraus, dass es in der Debatte um die These des erweiterten Geistes u.a. um die Frage geht, welche Faktoren konstitutiv für ein bestimmtes System sind. Nicht jeder Faktor, der für das Verhalten eines Systems kausal relevant ist, sei schon aus diesem Grund auch Teil des Systems. In seinem Beitrag setzte sich Hüttemann kritisch mit den für die Debatte um den erweiterten Geist zentralen Beiträgen von Adams & Aizawa und Ross & Ladyman auseinander, die sich mit der Grenzziehung zwischen konstitutivem Teil und externem Kausalfaktor beschäftigen.

 
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Dr. Kim J. Boström (Münster) - Kopplung und Konstitution: Was macht Objekte zu Objekten?

Ein zentraler Kritikpunkt an der These des erweiterten Geistes (TEG), der von Adams & Aizawa vorgebracht wird, besteht in dem Vorwurf des »Kopplungs-Konstitutions-Fehlschlusses«. Dieser liegt vor, wenn aus der reinen Annahme einer Kopplung zwischen verschiedenen Systemen auf die Konstitution eines gemeinsamen Systems geschlossen wird. Kim J. Boström untersuchte diesen Vorwurf und zeigte zunächst, dass Adams & Aizawa zu seiner Stützung den Verfechtern der TEG stillschweigend zusätzliche Fehlschlüsse unterstellen, was den eigentlichen Vorwurf des Kopplungs-Konstitutions-Fehlschlusses untergräbt. Anschließend stellte Boström die Frage, ob es sich überhaupt um einen Fehlschluss handelt. Er begab sich in das Gebiet der Physik und zeigte anhand von konkreten Beispielen, unter welchen Umständen ein Physiker eine Menge miteinander gekoppelter Systeme üblicherweise als eigenständiges System auffasst. In Anlehnung an die Theorie der Phasenübergänge entwickelte Boström einen Ansatz, wann gekoppelte Systeme als zusammenhängendes »funktionelles Objekt« betrachtet werden könnten und verallgemeinerte diese Theorie auf die Bildung »kognitiver Objekte«, zu denen dann möglicherweise auch ein erweiterter Geist im Sinne der TEG gezählt werden könnte.

 
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Dr. Arnold Ziesche (Leipzig) - Wahrnehmung: Eine Gemengelage aus Umwelt, Körper und Gehirn

 Arnold Ziesche stellte ein Modell der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung über das Verhältnis von Wahrnehmung und Handlung vor. Danach besteht der Wahrnehmungsprozess darin, dass das Gehirn innere Zustände, die die Umwelt repräsentieren, anhand des sensorischen Inputs so anpasst, dass beide möglichst übereinstimmen. In Analogie dazu lässt sich in diesem Modell Handlung so erklären, dass externe Zustände so angepasst werden, dass das sensorische Input mit den inneren Zuständen kompatibel ist. Nach diesem Modell, so Ziesches Vorschlag, lässt die Symmetrie der Wahrnehmungsprozesse im Inneren des Gehirns und außerhalb des Körpers es plausibler erscheinen, dass Wahrnehmung tatsächlich in den Teilen außerhalb des Körpers stattfindet.

 
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Prof. Dr. Holger Lyre (Magdeburg) - Erweiterte soziale Kognition

Die These des erweiterten Geistes besagt, dass sich kognitive Prozesse und Aktivitäten unter geeigneten Bedingungen über die Grenze des neuronalen Systems hinaus erstrecken können. Derartige kognitive Erweiterungen finden nach der Auffassung von Holger Lyre auf wenigstens drei Ebenen statt: als Erweiterung in den Körper, in die physikalische und die soziale Umgebung. Letztere umfasst Lyre zufolge soziale Kooperationen und Sprachgemeinschaften. Gleichzeitig führt die These des erweiterten Geistes, die sich zunächst auf die Vehikel der Kognition bezieht, auch auf eine interessante neue Variante eines »aktiven« Externalismus mentaler Gehalte. In seinem Beitrag konzentrierte sich Lyre auf die Zusammenhänge der These des erweiterten Geistes zum einen mit Theory-of-Mind-Fähigkeiten und zum anderen mit geteilter Intentionalität, d.h. die Erweiterung des Kognitiven in die soziale Umgebung.